Änderung wegen Beseitigung der Ungewissheit bei vorläufiger Steuerfestsetzung, Verjährung: Das FA kann eine nach § 165 Abs. 1 AO vorläufige Steuerfestsetzung nach Ablauf der Frist des § 171 Abs. 8 AO nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern, wenn das die Ungewissheit beseitigende Ereignis (§ 165 Abs. 2 AO) zugleich steuerrechtlich zurückwirkt. - Urt.; BFH 10.5.2007, IX R 30/06; SIS 07 21 33
I. Die Beteiligten streiten über die
Änderungsbefugnis des Beklagten und Revisionsklägers
(Finanzamt - FA - ).
Die Klägerin und Revisionsbeklagte zu
1 (Klägerin zu 1) wurde mit ihrem im Jahr 2000 verstorbenen
und von ihr und den gemeinsamen Söhnen (den Klägern zu 2
und 3) beerbten Ehemann zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die
Ehegatten machten im Zusammenhang mit einem erworbenen Erbbaurecht
in den Kalenderjahren 1994 bis 1999 Vorkosten (Schuldzinsen,
Erbbauzinsen, Grundsteuer) nach § 10e Abs. 6 des
Einkommensteuergesetzes in der Fassung der Streitjahre (EStG)
geltend, die das FA anerkannte. Alle Bescheide ergingen teilweise
vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 der
Abgabenordnung (AO) „hinsichtlich der Schuldzinsen und
anderer Aufwendungen i.S. des § 10e Abs. 6 EStG, weil die
Wohnung noch nicht zu eigenen Wohnzwecken genutzt wird“. Mit
notariell beurkundetem Vertrag vom 7.2.2001 wurde das Erbbaurecht
aufgehoben und das Grundstück zurückgegeben. Mit
Änderungsbescheiden vom 10.12.2003 versagte das FA den
Vorkostenabzug; es stützte die Änderungsbescheide auf
§ 165 Abs. 2 AO und erklärte sie nach § 165 Abs. 2
Satz 2 AO (in diesem Punkt) für endgültig.
Mit dem Einspruch machten die Kläger
geltend, dass sie auch beabsichtigt hätten, das
Grundstück zum Teil zu vermieten. Der Einspruch blieb
erfolglos. Die Vermietungsabsicht sei - so das FA - nicht belegt
worden.
Mit der Klage wandten sich die Kläger
gegen die Änderungsbefugnis des FA. Es sei beabsichtigt
gewesen, Teile des auf dem Erbbaurecht zu errichtenden
Gebäudes als Büro zu vermieten.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit
seinem in EFG 2006, 1394 = SIS 06 35 54, veröffentlichten
Urteil zum Teil statt: Das FA sei im Hinblick auf die Jahre 1994
bis 1997 wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist gehindert gewesen, die
Einkommensteuerbescheide zu ändern. Zwar ende die
Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 8 AO nicht vor dem Ablauf
eines Jahres, nachdem die Ungewissheit beseitigt sei und das FA
hiervon Kenntnis erhalte. Indes habe im Streitfall das FA
spätestens mit dem Einspruchsschreiben vom 5.4.2002 erfahren,
dass das Bauvorhaben durch Aufhebung des Erbbaurechts
unmöglich geworden sei. Daher sei Festsetzungsverjährung
Ende April 2003 eingetreten; die Änderungsbescheide vom
Dezember 2003 seien mithin rechtswidrig. Auf § 175 Abs. 1 Satz
1 Nr. 2 AO - mit der Folge der Anlaufhemmung des § 175 Abs. 1
Satz 2 AO - könnten die Änderungen nicht gestützt
werden. Dies folge aus dem Einleitungssatz des § 172 Abs. 1
Satz 1 AO, der klarstelle, dass §§ 172 ff. AO nicht
gälten, soweit ein Bescheid unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung oder vorläufig ergangen sei. Deshalb sei auch
die Anlaufhemmung des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO nicht
anwendbar.
Hiergegen - also nur betreffend die Jahre
1994 bis 1997 (Streitjahre) - richtet sich die Revision des FA, die
es auf Verletzung materiellen Rechts stützt: Die Anlaufhemmung
komme bei dem hier rückwirkenden Ereignis zum Zuge.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet; das
angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
1. Das FG hat unzutreffend die
Änderungsbefugnis des FA nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AO verneint. Danach ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit
ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die
Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
a) Ein solches Ereignis ist - wie hier - die
fehlende Eigennutzung eines Objekts, für das Vorkostenabzug
nach § 10e EStG gewährt wurde. Der Vorkostenabzug steht
unter dem materiell-rechtlichen Vorbehalt der späteren
Eigennutzung des Objekts. Kommt es dazu - wie hier - aber nicht,
hat dies Rückwirkung auf die Veranlagungszeiträume, in
denen die Vorkosten wie Sonderausgaben berücksichtigt wurden,
mit der Folge, dass die Steuerbescheide nach § 175 Abs. 1 Satz
1 Nr. 2 AO geändert werden können (Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1.10.2003 X R 67/01, BFH/NV 2004, 154
= SIS 04 04 39, m.w.N.).
b) Die Anwendbarkeit von § 175 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 AO ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil das FA die
Einkommensteuer für die Streitjahre vorläufig festgesetzt
hat.
aa) Zwar ist das rückwirkende Ereignis
i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (die Aufgabe des
Erbbaurechts und das damit einhergehende Nichtzustandekommen der
Eigennutzung) zugleich ein Ereignis, das die tatsächliche
Ungewissheit beseitigt hat und das zur Änderung der
Einkommensteuerbescheide nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO
verpflichtete (so explizit für den hier vorliegenden Fall des
§ 10e Abs. 6 EStG: BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154 = SIS 04 04 39). Die Bescheide der Streitjahre konnten trotz der
Vorläufigkeit in diesem Punkt aber nicht nach § 165 Abs.
2 AO geändert werden, weil die einjährige Ablaufhemmung
des § 171 Abs. 8 AO bereits verstrichen war. Das FA hatte nach
den gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen
des FG im April 2002 von der die Ungewissheit beseitigenden
Tatsachen Kenntnis erhalten, so dass die Festsetzungsfrist Ende
April 2003 endete. Indes begann die Festsetzungsfrist in Bezug auf
das rückwirkende Ereignis nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO
erst mit dem Ablauf des Jahres 2002. Deshalb konnte das FA
jedenfalls nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern.
bb) Das FG stützt sich für seine
gegenteilige Auffassung zu Unrecht auf die BFH-Rechtsprechung,
wonach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht eingreifen solle,
wenn die Steuerfestsetzung vorläufig erlassen worden sei
(BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154 = SIS 04 04 39; zu Bescheiden unter
dem Vorbehalt der Nachprüfung: BFH-Urteil vom 17.3.1994 V R
123/91, BFH/NV 1995, 274, und BFH-Beschluss vom 4.11.1998 IV B
146/97, BFH/NV 1999, 589 = SIS 98 50 55).
Ein solcher Vorrang der
Korrekturmöglichkeit des § 165 Abs. 2 AO kommt hier aber
nicht in Betracht: Einerseits war die zunächst vorläufige
Steuerfestsetzung bereits bestandskräftig, als das FA nach dem
Ablauf der in § 171 Abs. 8 AO geregelten Festsetzungsfrist die
angefochtenen Änderungsbescheide erlassen hatte (vgl.
Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 165 Rz 51). Andererseits
wird das Konkurrenzverhältnis durch den Einleitungssatz des
§ 172 Abs. 1 AO nicht in dem Sinne gelöst, § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auszuschließen, wenn das
rückwirkende Ereignis zugleich ein Umstand ist, der die
Ungewissheit beseitigt. Der Einleitungssatz des § 172 Abs. 1
AO stellt nicht klar, dass die §§ 172 ff. AO nicht
gelten, soweit ein Bescheid unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung oder vorläufig (§§ 164, 165 AO)
ergangen ist (so aber BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 589 = SIS 98 50 55); auch ein Umkehrschluss mit diesem Ergebnis ergibt sich aus dem
Gesetz nicht (so aber BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154 = SIS 04 04 39). Wenn es in § 172 Abs. 1 AO heißt, „ein
Steuerbescheid darf, soweit er nicht vorläufig oder unter dem
Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nur aufgehoben oder
geändert werden“, soweit dies sonst gesetzlich
zugelassen ist (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d AO), so
enthält dieser Satz keine Aussage zu vorläufigen
Steuerfestsetzungen, sondern regelt die Korrekturbefugnis nur bei
Steuerbescheiden, soweit sie nicht vorläufig ergangen sind.
Derartige Verwaltungsakte können dann nur aufgrund der
§§ 172 ff. AO geändert werden.
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist auch
nicht dahingehend einschränkend auszulegen, diese
Korrekturmöglichkeit nur dann zu eröffnen, wenn für
eine Durchbrechung der Bestandskraft ein Anlass bestehe, der aber
fehle, wenn das FA in der Frist des § 171 Abs. 8 AO nach
§ 165 Abs. 2 AO hätte vorgehen können. Eine
vergleichbare Korrekturbeschränkung zu § 174 Abs. 3 AO
vertritt der BFH in seinem Urteil vom 6.12.2006 XI R 62/05 (BFH/NV
2007, 536 = SIS 07 04 70): Der diese Änderungsmöglichkeit
legitimierende Vertrauensschutzgedanke rechtfertige eine
Durchbrechung der Bestandskraft nur dann, wenn der Steuerpflichtige
ohne Änderungsmöglichkeit seine Rechte nicht weiter
hätte verfolgen können. Darum geht es aber im
Verhältnis des § 165 Abs. 2 AO zu § 175 Abs. 1 Satz
1 Nr. 2 AO nicht: § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist vielmehr
lediglich die verfahrensrechtliche Folge eines Ereignisses, das
steuerschuldrechtlich und damit nach materiellem Recht
zurückwirkt (vgl. grundlegend BFH-Beschluss vom 19.7.1993 GrS
2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 = SIS 93 23 33), und zwar
unabhängig davon, ob und inwieweit es bereits bei der
Steuerfestsetzung erwartet werden konnte. Der tatsächliche
Eintritt des Ereignisses hat materiell-rechtlich wie auch
verfahrensrechtlich eine andere Qualität als die bloße
Ungewissheit über sein Eintreten beim Erlass des
Steuerbescheides.
cc) Es besteht auch kein sachlicher Grund,
warum das FA nicht wegen eines rückwirkenden Ereignisses
ändern können soll, nur weil es - zusätzlich - den
Bescheid vorläufig erlassen hat. Nutzt es die
Berichtigungsmöglichkeit des § 165 Abs. 2 AO nicht, setzt
es keinen Vertrauenstatbestand, der es hindern würde, auch
wegen des zugleich bestehenden rückwirkenden Ereignisses zu
ändern.
dd) Der Senat weicht nicht in nach § 11
Abs. 2 FGO erheblicher Weise von den oben zitierten Entscheidungen
anderer Senate des BFH ab. In den Entscheidungen des V. (Urteil in
BFH/NV 1995, 274) und des IV. Senats (Beschluss in BFH/NV 1999, 589
= SIS 98 50 55) bezogen sich die Korrekturen anders als im
Streitfall auf Bescheide über die Aufhebung des Vorbehalts der
Nachprüfung, die wie erstmalige Steuerfestsetzungen wirken
(§ 164 Abs. 3 Satz 2 AO). Das Urteil des X. Senats
äußert sich zum Ausschluss des § 175 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 AO in einem obiter dictum (BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154 =
SIS 04 04 39). Für die Auffassung des erkennenden Senats
spricht das Urteil des VIII. Senats vom 19.8.2003 VIII R 67/02
(BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107 = SIS 03 51 63), das unter 1. a
ganz offenbar davon ausgeht, dass auch ein rückwirkendes
Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bei
vorläufigen Bescheiden zu berücksichtigen ist.
c) Nach diesen Maßstäben ist das
angefochtene Urteil aufzuheben; denn das FA durfte die
Änderungsbescheide erlassen. Es war hierzu nach § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sogar verpflichtet. Dass es diese Bescheide
zunächst auf § 165 Abs. 2 AO gestützt hatte, ist als
Begründungselement nach § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO
unerheblich. Das FA hat die richtige Begründung im
Klageverfahren und damit nach § 126 Abs. 2 AO zutreffend
nachgeholt.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG ist
auf den Vortrag der Kläger nicht eingegangen, ein Teil der
Aufwendungen sei als vorab entstandene Werbungskosten bei ihren
Einkünften aus Vermietung und Verpachtung abziehbar. Insoweit
können die Voraussetzungen einer Berichtigung materieller
Fehler nach § 177 Abs. 1 AO (Kompensation) gegeben sein. Der
Senat kann die dazu nötigen Feststellungen nicht selbst
vornehmen. Zwar enthält der nicht angefochtene Teil der
Vorentscheidung Feststellungen und Rechtsausführungen zu bei
den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung als
Werbungskosten abziehbaren Aufwendungen, allerdings nicht für
die Streitjahre, sondern für die Jahre 1998 und 1999. Der
Senat kann nicht entscheiden, inwieweit die Erkenntnisse auf die
Streitjahre übertragbar sind. Das wird das FG in einer neuen
Verhandlung und Entscheidung nachzuholen haben.