Feststellung verbleibenden Verlustabzugs bei eingetretener Verjährung: Ein verbleibender Verlustabzug ist auch dann festzustellen, wenn die Einkommensteuer für diesen Veranlagungszeitraum aufgrund Verjährung nicht mehr festgesetzt werden kann. (zur Anwendung vgl. BMF-Schreiben vom 30.11.2007, IV C 4 - S 2225/07/0004, BStBl 2007 I S. 825 = SIS 08 05 63) - Urt.; BFH 2.8.2006, XI R 65/05; SIS 06 44 41
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Wie
für die Vorjahre hatten sie auch für das Jahr 1994 eine
Einkommensteuererklärung abgegeben (Eingang am 5.7.1996). Mit
Einkommensteuerbescheiden 1990 bis 1993 war die Einkommensteuer auf
0 DM festgesetzt worden; der Gesamtbetrag der Einkünfte war
jeweils negativ. Mit Bescheid vom 3.5.1996 war der verbleibende
Verlustabzug zur Einkommensteuer zum 31.12.1993 auf 3.916.097 DM
für den Kläger und auf 11.579 DM für die
Klägerin festgestellt worden. Im Jahre 2001 stellte der
Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) fest, dass
die Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1994 versäumt
worden und zwischenzeitlich Festsetzungsverjährung eingetreten
war. Eine „Probeveranlagung“ ergab einen Gesamtbetrag
der Einkünfte von 10.250.870 DM.
Unter dem 16.5.2003 erließ das FA
einen Bescheid, mit dem es den verbleibenden Verlustabzug auf den
31.12.1994 mit 0 DM feststellte. Den hiergegen eingelegten
Einspruch wies es mit Einspruchsentscheidung vom 21.9.2004 als
unbegründet zurück.
Mit Änderungsbescheiden ebenfalls vom
21.9.2004 änderte das FA den Bescheid betreffend die
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs auf den 31.12.1991
durch Berücksichtigung bislang nicht angesetzter
Beteiligungsverluste. Die Feststellungen des verbleibenden
Verlustabzugs auf den 31.12.1991, 31.12.1992 und auf den 31.12.1993
wurden entsprechend angepasst. Der verbleibende Verlustabzug zum
31.12.1993 betrug hiernach für den Kläger 4.396.523 DM
und für die Klägerin 11.573 DM.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab
(vgl. SIS 06 13 85). Gemäß § 10d Abs. 3 Satz 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für das Streitjahr 1994
maßgeblichen Fassung (Geltung mit In-Kraft-Treten des
Standortsicherungsgesetzes - StandOG - vom 13.9.1993, BGBl I 1993,
1569, BStBl I 1993, 774) sei verbleibender Verlustabzug der bei der
Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichene
Verlust, vermindert um die nach Absatz 1 abgezogenen und die nach
Absatz 2 abziehbaren Beträge und vermehrt um den auf den
Schluss des vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten
verbleibenden Verlustabzug.
Eine Feststellung des verbleibenden
Verlustabzugs auf den 31.12.1994 habe ungeachtet dessen zu
erfolgen, dass eine Veranlagung für dieses Jahr wegen
eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr in Betracht
komme. Gemäß § 181 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO
1977) könne eine gesonderte Feststellung auch nach Ablauf der
für sie geltenden Feststellungsfrist insoweit erfolgen, als
die gesonderte Feststellung für eine Steuerfestsetzung von
Bedeutung sei, für die die Festsetzungs- bzw.
Feststellungsfrist im Zeitpunkt der gesonderten Feststellung noch
nicht abgelaufen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts
der Bedeutung für die Einkommensteuerfestsetzungen und
gesonderten Verlustfeststellungen künftiger
Veranlagungszeiträume vor.
Die vom FA vorgenommene Feststellung des
verbleibenden Verlustabzugs sei auch der Höhe nach
rechtmäßig. Der verbleibende Verlustabzug zum 31.12.1993
sei in der mit Bescheid vom 21.9.2004 festgestellten Höhe
durch Vortrag in das Jahr 1994 und Verrechnung mit dem im Jahre
1994 angefallenen Gesamtbetrag der Einkünfte verbraucht. Eine
Abhängigkeit von einer im Vortragsjahr durchgeführten
Veranlagung bestehe nicht.
Mit der Revision machen die Kläger
geltend:
1.
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Im Streitfall lägen die
Voraussetzungen des § 10d Abs. 3 Sätze 4 und 5 EStG
ersichtlich nicht vor. Durch den Erlass des
Verlustfeststellungsbescheids werde nach Bestandskraft
wirtschaftlich die Wirkung einer Veranlagung herbeigeführt,
obwohl eine Veranlagung wegen Festsetzungsverjährung nicht
mehr in Betracht komme. Der Verbrauch des verbleibenden
Verlustabzugs aufgrund einer hypothetischen Probeveranlagung nach
Eintritt der Festsetzungsverjährung gehe über den
Wortlaut des § 10d EStG hinaus. Im Streitfall würden
Versäumnisse des Jahres 1994 im Jahr 2003 korrigiert. Ein
solcher Akt bedürfe einer eindeutigen gesetzlichen Normierung.
Auch lägen die allgemeinen Voraussetzungen für eine
Änderung und Durchbrechung der Bestandskraft zulasten der
Kläger nicht vor.
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2.
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§ 10d Abs. 3 Satz 2 EStG könne
der Verbrauch des verbleibenden Verlustabzugs durch eine fiktive
Veranlagung nicht entnommen werden. Hintergrund dieser Regelung sei
der Wegfall des Verlustrücktragsgebots ab dem
Veranlagungszeitraum 1994.
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3.
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Der von dem FA angeführte Hinweis auf
R 115 Abs. 5 Satz 2 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) beziehe
sich nur auf das Verfahren bei Einkünften aus
unselbständiger Arbeit (§ 19 EStG).
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4.
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Das vom FG angeführte Verfahren des FG
Köln (Urteil vom 11.5.2005 4 K 2205/02, EFG 2005, 1679 = SIS 06 01 07, Revision anhängig unter XI R 25/05) betreffe eine
Antragsveranlagung. Dort gehe es nur um eine Saldierung der
Einkünfte mit den Verlusten im entsprechenden
Verlustentstehungsjahr.
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5.
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Zwar räumten das FG Köln und mit
ihm weitere FG unter Hinweis auf § 181 Abs. 5 AO 1977
grundsätzlich die Möglichkeit der Feststellung des
verbleibenden Verlustabzugs trotz Festsetzungsverjährung ein
(FG Köln in EFG 2005, 1679 = SIS 06 01 07; FG Hessen vom
10.2.2004 1 K 3106/01, EFG 2004, 979 = SIS 04 24 99; FG Hamburg vom
23.3.2004 VII 62/01, EFG 2004, 1130 = SIS 04 31 00). Offen bleibe
jedoch, ob nach Eintritt der Festsetzungsverjährung eine
hypothetische Probeveranlagung, insbesondere auch zulasten des
Steuerpflichtigen zulässig sein solle.
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Die Kläger beantragen, das
angefochtene Urteil aufzuheben und den Bescheid über die
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31.12.1994 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.9.2004 dahin gehend zu
ändern, dass der verbleibende Verlustabzug auf 4.408.096 DM
festgestellt wird.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist gemäß §
126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unbegründet.
1. Die Berechtigung zur Feststellung des zum
31.12.1994 verbleibenden Verlustabzugs war nicht verjährt.
Gemäß § 181 Abs. 5 Satz 1 AO 1977 kann eine
Feststellung auch nach Ablauf der für sie geltenden
Feststellungsfrist insoweit erfolgen, als die gesonderte
Feststellung noch für eine Steuerfestsetzung von Bedeutung
ist, für die die Festsetzungsfrist im Zeitpunkt der
gesonderten Feststellung noch nicht abgelaufen ist. Diese
Voraussetzung ist nach den Feststellungen des FG gegeben; die
Feststellung hatte Bedeutung für die
Einkommensteuerfestsetzungen künftiger
Veranlagungszeiträume.
2. Gemäß § 10d Abs. 3 Satz 2
EStG ist der verbleibende Verlustabzug der bei der Ermittlung des
Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichene Verlust,
vermindert um die nach Absatz 1 abgezogenen und die nach Absatz 2
abziehbaren Beträge und vermehrt um den auf den Schluss des
vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten
Verlustabzug.
Im Streitfall ist der zum 31.12.1993
verbliebene Verlustabzug mit dem positiven Gesamtbetrag der
Einkünfte des Veranlagungszeitraums 1994 zu verrechnen, so
dass zum 31.12.1994 der verbleibende Verlustabzug zutreffend mit 0
DM festgestellt worden ist. § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG sieht
u.a. vor, dass der verbleibende Verlustabzug um die nach Absatz 2
abziehbaren Beträge vermindert wird. Nach § 10d Abs. 2
Satz 1 EStG sind die nicht abgezogenen Verluste in den
nachfolgenden Veranlagungszeiträumen wie Sonderausgaben vom
Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen. Dabei kommt es nicht
darauf an, dass dieser „Gesamtbetrag der
Einkünfte“ Gegenstand einer Veranlagung war. Das
Verfahren der Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs ist
insoweit selbständig. Auch der Begriff der
„abziehbaren Beträge“ (§ 10d Abs. 3
Satz 2 EStG) deutet darauf hin, dass eine eigenständige
Berechnung vorzunehmen ist.
Diese Auffassung berücksichtigt den
Umstand, dass im Verfahren der Einkommensteuerfestsetzung nur der
Betrag der Einkommensteuer verbindlich geregelt wird (vgl. §
157 Abs. 1 Satz 2 AO 1977), dass aber die einzelnen
Besteuerungsgrundlagen nicht Regelungsgegenstand sind;
Streitgegenstand im steuergerichtlichen Verfahren ist nicht das
einzelne Besteuerungsmerkmal, sondern die Rechtmäßigkeit
des die Steuer festsetzenden Steuerbescheids (Beschluss des
Großen Senats des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17.7.1967 GrS
1/66, BFHE 91, 393, BStBl II 1968, 344 = SIS 68 02 24). Der auf den
31. Dezember festzustellende nach § 10d Abs. 3 EStG
verbleibende Verlustabzug ist - unabhängig davon, ob eine
Veranlagung durchgeführt worden ist - so zu berechnen, wie er
sich bei zutreffender Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen und des
Verlustrücktrags und -vortrags nach § 10d Abs. 1 und 2
EStG ergeben hätte (sog. Soll-Verlustabzug; BFH-Urteil vom
22.2.2005 VIII R 89/00, BFHE 209, 224, BStBl II 2005, 624 = SIS 05 29 97; Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10d EStG Anm.
125).
3. Nach dem Urteil des erkennenden Senats des
BFH vom 1.3.2006 XI R 33/04 (BFH/NV 2006, 1204 = SIS 06 19 99)
verlangt § 10d EStG nicht, dass ein erstmaliger
Feststellungsbescheid nur dann ergehen kann, wenn für das
Verlustentstehungsjahr noch ein Einkommensteuerbescheid erlassen
werden könnte. In vergleichbarer Weise kann ein Verlustabzug
vorgenommen werden, auch wenn der entsprechende
Einkommensteuerbescheid wegen Verjährung nicht mehr ergehen
kann.
4. In den Urteilen vom 9.12.1998 XI R 62/97
(BFHE 187, 523, BStBl II 2000, 3 = SIS 99 09 41) und vom 9.5.2001
XI R 25/99 (BFHE 195, 545, BStBl II 2002, 817 = SIS 02 01 64) hatte
der Senat die erstmalige Feststellung des verbleibenden
Verlustabzugs im Hinblick auf die bestandskräftige und nicht
unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Veranlagung, die
einen positiven Gesamtbetrag der Einkünfte auswies, untersagt
(dazu auch BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 1204 = SIS 06 19 99).
5. § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG ist im
Streitfall ohne Bedeutung. Diese Norm regelt - § 175 Abs. 1
Nr. 1 AO 1977 vergleichbar - die korrespondierende Feststellung
nach Erlass, Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids. Im
Streitfall ist kein Steuerbescheid ergangen; eine Anpassung ist
nicht geboten.