Verbleibender Verlustabzug, Feststellung ohne ESt-Veranlagung: Ein erstmaliger Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs nach § 10 d EStG kann bis zum Ablauf der Feststellungsfrist auch dann noch ergehen, wenn eine Veranlagung zur Einkommensteuer vom FA wegen Ablaufs der zweijährigen Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG bestandskräftig abgelehnt worden ist. (zur Anwendung vgl. BMF-Schreiben vom 30.11.2007, IV C 4 - S 2225/07/0004, BStBl 2007 I S. 825 = SIS 08 05 63) - Urt.; BFH 1.3.2006, XI R 33/04; SIS 06 19 99
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) reichte am 12.6.2002 eine
Einkommensteuererklärung für das Jahr 1998 ein. Darin
erklärte sie Arbeitslohn in Höhe von 656 DM, von dem kein
Lohnsteuerabzug vorgenommen worden war, Einnahmen aus
Kapitalvermögen in Höhe von 1.512 DM und einen Verlust
aus Gewerbebetrieb in Höhe von 117.299 DM. Der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt - FA - ) lehnte es mit
Verfügung vom 19.6.2002 ab, eine Einkommensteuerveranlagung
durchzuführen, da es sich um eine Antragsveranlagung
gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) handele und die zweijährige Antragsfrist abgelaufen
sei. Den dagegen eingelegten Einspruch nahm die Klägerin
zurück.
Am 9.7.2002 beantragte die Klägerin,
den verbleibenden Verlustabzug auf den 31.12.1998 gesondert
festzustellen. Dies lehnte das FA ab. Es vertrat die Auffassung,
aus § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG folge, dass eine Feststellung des
verbleibenden Verlustabzugs nur dann noch durchzuführen sei,
wenn es noch zulässig sei, einen Steuerbescheid für den
Verlustentstehungszeitraum zu erlassen oder zu ändern. Dem
stehe im Streitfall der Ablauf der Zwei-Jahres-Frist des § 46
Abs. 2 Nr. 8 EStG entgegen.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.
Es entschied, eine erstmalige gesonderte Feststellung des
vortragsfähigen Verlustes zum 31. Dezember eines
Veranlagungszeitraums könne auch dann noch durchgeführt
werden, wenn feststehe, dass für den Veranlagungszeitraum eine
Einkommensteuerveranlagung (Antragsveranlagung) wegen Ablaufs der
zweijährigen Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2
EStG ausgeschlossen sei. Das FA sei deshalb verpflichtet, sachlich
über den Antrag, den verbleibenden Verlustabzug auf den
31.12.1998 festzustellen, zu entscheiden und einen etwaigen Verlust
gesondert festzustellen. Das Urteil ist in EFG 2004, 1293 = SIS 04 31 06 veröffentlicht.
Das FA rügt mit seiner Revision eine
Verletzung der §§ 10d und 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG.
Es beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt
sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision des FA ist unbegründet
und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat das FA rechtsfehlerfrei
verpflichtet, sachlich über den Antrag der Klägerin auf
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs auf den 31.12.1998 zu
entscheiden und einen etwaigen Verlust gesondert festzustellen.
Entgegen der Auffassung des FA ist unerheblich, ob für die
Klägerin noch ein Einkommensteuerbescheid für das Jahr
1998 hätte ergehen können.
Die Berechtigung des Klagebegehrens ergibt
sich nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz aus § 10d
Abs. 3 Satz 1 EStG in der für das Jahr 1998 gültigen
Fassung des EStG (nunmehr § 10d Abs. 4 Satz 1 EStG n.F.).
Danach ist der am Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibende
Verlustabzug gesondert festzustellen.
a) Soweit der Anspruch auf eine gesonderte
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs verjähren kann
(vgl. §§ 179, 181 Abs. 1 und Abs. 5, 169 ff. der
Abgabenordnung - AO 1977 - ), ist im Streitfall zwischen den
Beteiligten zu Recht unstreitig und ist auch das FG ohne weiteres
davon ausgegangen, dass eine Feststellungsverjährung dem
Begehren der Klägerin nicht entgegensteht (vgl. auch das
Senatsurteil vom 12.6.2002 XI R 26/01, BFHE 198, 395, BStBl II
2002, 681 = SIS 02 93 36).
b) Die erstrebte Feststellung ist auch nicht
nach § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG ausgeschlossen. Der Sachverhalt
des Streitfalles wird nicht vom Regelungsbereich dieser Vorschrift
erfasst. Nach Satz 4 sind Feststellungsbescheide zu erlassen,
aufzuheben oder zu ändern, soweit sich die nach Satz 2 zu
berücksichtigenden Beträge ändern und deshalb der
entsprechende Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu
ändern ist (Sperrung hinzugefügt). Satz 2 bestimmt, aus
welchen sog. Bezugsgrößen sich der verbleibende
Verlustabzug zusammensetzt. Nach seinem unmissverständlichen
Wortlaut regelt Satz 4 neben der Änderung und Aufhebung auch
die Zulässigkeit des erstmaligen Erlasses eines
Feststellungsbescheides über den verbleibenden Verlustabzug
nur für den Fall, dass sich eine der Bezugsgrößen
des Satzes 2 geändert hat. Ist dies nicht der Fall, ist diese
Norm nicht anwendbar.
Im Streitfall hat sich keine
Bezugsgröße verändert. Es wird erstmals die
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs auf der Grundlage des
Verlustes des Jahres 1998 geltend gemacht, für das keine
Einkommensteuerveranlagung ergangen ist.
Da auch § 10d Abs. 3 Satz 5 EStG eine
Änderung der Bezugsgröße voraussetzt, kann diese
Vorschrift dem erstmaligen Erlass eines Feststellungsbescheides
ebenfalls nicht entgegenstehen.
c) Auch der Sinn und Zweck des § 10d EStG
verlangt nicht, dass ein erstmaliger Feststellungsbescheid
über den verbleibenden Verlustabzug ausnahmslos nur dann
ergehen kann, wenn für das Verlustentstehungsjahr noch ein
Einkommensteuerbescheid erlassen werden kann (vgl. Urteil des FG
Hamburg vom 23.3.2004 VII 62/01, EFG 2004, 1130 = SIS 04 31 00;
Urteil des FG Köln vom 11.5.2005 4 K 2205/02, EFG 2005, 1679 =
SIS 06 01 07 - Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs - BFH - XI R 25/05
- ; Wüllenkemper, EFG 2004, 1132; Adamek, EFG 2004, 1294;
Pfützenreuter, EFG 2005, 1681; a.A. Urteile des Hessischen FG
vom 10.11.2004 13 K 1303/04, EFG 2005, 789 = SIS 05 09 05 -
rechtskräftig - und 13 K 426/04, EFG 2005, 946 = SIS 05 09 13
- BFH-Aktenzeichen XI R 56/04 - ; Oberfinanzdirektion Münster,
Verfügung vom 11.3.2005, Kurzinformation Einkommensteuer Nr.
011/2005, DStR 2005, 786 = SIS 05 17 35; Gatzka/Wilhelm, DStR 2005,
1794; Valentin, EFG 2005, 790). Der Zweck des § 10d EStG, dass
Verluste vorgetragen werden können, und der Zweck der
gesonderten Feststellung, Rechtsstreitigkeiten über die
Höhe des für die Zukunft verbleibenden Verlustabzugs zu
begrenzen und eine für den Steuerpflichtigen und die
Verwaltung bindende Entscheidung über den zukünftig
verbleibenden Verlustabzug zeitnah zu treffen (vgl. BTDrucks
11/2536 S. 78), werden unabhängig davon gewahrt, ob in
Fällen wie dem vorliegenden zusätzlich ein
Einkommensteuerbescheid ergehen kann oder nicht.
aa) Diese Auffassung steht nicht im
Widerspruch zu den Senatsurteilen vom 9.12.1998 XI R 62/97 (BFHE
187, 523, BStBl II 2000, 3 = SIS 99 09 41) und vom 9.5.2001 XI R
25/99 (BFHE 195, 545, BStBl II 2002, 817 = SIS 02 01 64). Beiden
Urteilen liegen Sachverhalte zugrunde, in denen der
bestandskräftige und nicht unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO 1977) stehende
Einkommensteuerbescheid des Veranlagungszeitraums, zu dessen
Schluss die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs begehrt
wurde, einen positiven Gesamtbetrag der Einkünfte auswies. Die
erstmalige Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs wurde mit
der Begründung begehrt, dass abweichend von dem
bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid kein positiver,
sondern richtigerweise ein negativer Gesamtbetrag der
Einkünfte vorgelegen habe. Für diesen Sachverhalt hat der
Senat das Erfordernis, dass der Einkommensteuerbescheid noch
änderbar sein müsse, aus § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG
hergeleitet. Werde die Änderung einer Bezugsgröße
geltend gemacht, ergebe sich aus dem in dieser Vorschrift für
diesen Fall hergestellten Zusammenhang zwischen
Feststellungsbescheid und Einkommensteuerbescheid, dass der
erstmalige Erlass des Feststellungsbescheides nur zulässig
sei, wenn der entsprechende Steuerbescheid noch geändert
werden könne; anderenfalls würden durch den Erlass des
Feststellungsbescheides Fehler korrigiert, die in einem
bestandskräftigen Steuerbescheid enthalten und dort nicht mehr
änderbar seien. Dies solle durch § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG
unterbunden und dadurch die Bestandskraft des Steuerbescheides
gesichert werden.
Liegt für das Verlustentstehungsjahr kein
Einkommensteuerbescheid vor und kann ein solcher auch in Zukunft
nicht mehr ergehen, existieren keine bestandskräftigen
fehlerhaften Steuerfestsetzungen, die durch den noch zu erlassenden
Feststellungsbescheid über den verbleibenden Verlustabzug
korrigiert würden. Zwischen einem nichtexistenten
Einkommensteuerbescheid und einem Feststellungsbescheid kann ein
Widerspruch, dessen Eintritt durch § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG
verhindert werden soll, nicht eintreten.
bb) Der Erlass des begehrten
Feststellungsbescheides ist auch nicht wegen der Besonderheit des
Streitfalles ausgeschlossen, dass die Klägerin u.a. auch
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG)
erzielt hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein
Einkommensteuerbescheid nicht mehr hätte ergehen können,
weil die Klägerin ihre Einkommensteuererklärung für
den Veranlagungszeitraum 1998 nach Ablauf der Zwei-Jahres-Frist des
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG eingereicht hat. Denn selbst
wenn § 46 Abs. 2 EStG anwendbar sein sollte, wenn - wie im
Streitfall - tatsächlich keine Lohnsteuer einbehalten worden
ist, regelt die Vorschrift nur die Durchführung einer
Veranlagung, also die Frage, ob eine Veranlagung i.S. des § 25
EStG vorzunehmen ist; sie bestimmt nach ihrem Wortlaut nicht die
Voraussetzungen für den erstmaligen Erlass eines
Feststellungsbescheides über den verbleibenden Verlustabzug
nach § 10d Abs. 3 EStG. Soweit in § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz
3 EStG auch der Fall geregelt ist, dass der Antrag auf Veranlagung
zur Einkommensteuer zur Berücksichtigung von
Verlustabzügen nach § 10d EStG gestellt wird, betrifft
dies ebenfalls die Veranlagung zur Einkommensteuer und nicht das
Verfahren zur Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs nach
§ 10d Abs. 3 Satz 1 EStG.
Der Senat vermag keine Regelungslücke zu
erkennen, die es rechtfertigen könnte, die Zwei-Jahres-Frist
zu Lasten des Steuerpflichtigen analog auf die Feststellung des
verbleibenden Verlustabzugs anzuwenden. Wie § 46 Abs. 2 Nr. 8
Satz 3 EStG zeigt, hat der Gesetzgeber die Besonderheiten des
§ 10d EStG gesehen. Hätte er auch für die
Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs eine Zwei-Jahres-Frist
zu Lasten von Steuerpflichtigen, die u.a. auch Einkünfte aus
nichtselbständiger Arbeit erzielen, einführen wollen,
hätte es nahe gelegen, dies ausdrücklich zu regeln. Auch
der in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.1981 1
BvR 172/81 (Steuerrechtsprechung in Karteiform,
Einkommensteuergesetz 1974, § 46 EStG, Rechtsspruch 2)
angeführte Grund der Budgetsicherheit kann - ungeachtet der
Frage, ob er für die Veranlagung zur Einkommensteuer wirklich
tragfähig ist - für die Feststellung des verbleibenden
Verlustabzugs nicht gelten. Denn diese wirkt sich nur für die
Zukunft aus und kann nicht zur Erstattung von im
Verlustentstehungsjahr einbehaltener Lohnsteuer führen.