Vorläufigkeitsvermerk wegen Musterprozess, Reichweite, Vorsorgeaufwendungen: 1. Ist eine Steuer "im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren" vorläufig festgesetzt, so bezieht sich der Vorläufigkeitsvermerk nur auf solche Verfahren, die bereits im Zeitpunkt der Festsetzung beim EuGH, beim BVerfG, beim BFH oder bei einem anderen obersten Bundesgericht anhängig sind. - 2. Die Vorläufigkeit eines Einkommensteuerbescheids "hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG)" erstreckt sich, soweit sie im Hinblick auf die gegen den BFH-Beschluss vom 21.12.2000 XI B 75/99 (BFH/NV 2001, 773 = SIS 01 65 23) erhobene Verfassungsbeschwerde (Az. des BVerfG: 2 BvR 587/01) verfügt worden ist, nur auf die Frage, ob auch bei zusammenveranlagten Ehegatten eine individuelle Kürzung des Vorwegabzugs dergestalt möglich ist, dass jedenfalls demjenigen Ehegatten, der nicht durch vorwegabzugschädliche Arbeitgeberleistungen begünstigt worden ist, ein eigener Vorwegabzug von 3.068 EUR verbleibt. - Urt.; BFH 31.5.2006, X R 9/05; SIS 06 34 96
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) sind Eheleute und wurden für das Streitjahr
(2001) mit ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit
zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Arbeitslohn des als
Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH tätigen
Klägers hatte - anders als der Arbeitslohn der Klägerin -
weder der Sozialversicherungspflicht unterlegen noch waren von der
GmbH für den Kläger steuerfreie
Zukunftssicherungsleistungen erbracht worden.
In ihrer Einkommensteuererklärung
machten die Kläger Vorsorgeaufwendungen einschließlich
des Arbeitnehmeranteils der Klägerin zur Sozialversicherung in
Höhe von insgesamt 23.238 DM geltend, die der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt - FA - ) nach § 10 Abs. 3
des Einkommensteuergesetzes (EStG, hier in der bis zum
Veranlagungszeitraum 2004 geltenden Fassung - a.F. - ) nur in
Höhe von 7.830 DM als abzugsfähige Sonderausgaben
berücksichtigte. Der Einkommensteuerbescheid vom 11.7.2002 ist
in seinem Festsetzungsteil als „nach § 165 Abs. 1 Satz 2
AO teilweise vorläufig“ gekennzeichnet. In den
nachfolgenden Erläuterungen wird ausgeführt, der
Vorwegabzug für die Vorsorgeaufwendungen sei gekürzt
worden, „weil nicht der gesamte Arbeitslohn beider Ehegatten
die Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG
erfüllt“ habe. In einer weiteren Erläuterung
heißt es, der Bescheid sei „im Hinblick auf
anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche
Verfahren vorläufig hinsichtlich der beschränkten
Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3
EStG)“. Die Vorläufigkeitserklärung erfolge aus
verfahrenstechnischen Gründen und sei nicht dahin zu
verstehen, dass die Regelungen als verfassungswidrig angesehen
würden. Änderungen dieser Regelungen würden von Amts
wegen berücksichtigt; ein Einspruch sei insoweit nicht
erforderlich.
Mit am 4.9.2002 beim FA eingegangenem
Schreiben beantragten die Kläger, den Einkommensteuerbescheid
vom 11.7.2002 nach § 165 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977)
zu ändern und bei der Kürzung des Vorwegabzugs den
Arbeitslohn des Klägers außer Ansatz zu lassen.
Diesen Antrag lehnte das FA ab. Es vertrat
die Auffassung, dass es sich bei der Berechnung des Vorwegabzugs
nicht um eine verfassungsrechtliche Frage handele, die deshalb von
dem mit dem Bescheid verbundenen allgemeinen
Vorläufigkeitsvermerk nicht erfasst sei. Die Einspruchsfrist
sei bereits abgelaufen.
Auf die hiergegen erhobene Klage
verpflichtete das Finanzgericht (FG) das FA, den
Einkommensteuerbescheid im Sinne des Begehrens der Kläger
abzuändern. Sein in EFG 2005, 1019 = SIS 05 28 85 abgedrucktes
Urteil begründete das FG im Wesentlichen wie folgt:
In Anbetracht der bei Erlass des Bescheids
beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits anhängigen
Verfassungsbeschwerde 2 BvR 587/01 gegen den Beschluss des
Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21.12.2000 XI B 75/99 (BFH/NV 2001, 773
= SIS 01 65 23) umfasse der Vorläufigkeitsvermerk auch die
dort aufgeworfene Frage, ob § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 EStG a.F.
verfassungsgemäß sei. Dadurch unterscheide sich der
Streitfall von den Sachverhalten, die der BFH in seinen Urteilen
vom 27.11.1996 X R 20/95 (BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791 = SIS 97 14 63) und vom 26.2.2004 XI R 50/03 (BFH/NV 2004, 1064 = SIS 04 30 02) zur Auslegung von Vorläufigkeitsvermerken
„hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von
Vorsorgeaufwendungen“ bereits entschieden habe.
Die insoweit bestehende Ungewissheit sei
inzwischen durch das BFH-Urteil vom 3.12.2003 XI R 11/03 (BFHE 204,
461, BStBl II 2004, 709 = SIS 04 13 67) beseitigt worden. Danach
sei aufgrund verfassungskonformer Auslegung bei der Kürzung
des zusammenveranlagten Ehegatten gemeinsam zustehenden
Vorwegabzugs nur der Arbeitslohn desjenigen Ehegatten in die
Bemessungsgrundlage einzubeziehen, für den
Zukunftssicherungsleistungen i.S. des § 3 Nr. 62 EStG erbracht
worden seien oder der zum Personenkreis des § 10c Abs. 3 Nr. 1
oder 2 EStG gehöre. Die Beurteilung der hier streitigen Fragen
hänge daher nicht mehr von der Verfassungskonformität des
§ 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG a.F. ab, da die Kläger jedenfalls
einen Anspruch auf die begehrte Einschränkung der Kürzung
des Vorwegabzugs hätten.
Mit der Revision rügt das FA die
Verletzung des § 165 Abs. 1 AO 1977. Der BFH habe mehrfach
entschieden, dass der strittige Vorläufigkeitsvermerk
inhaltlich auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der
beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen
beschränkt sei. Die Steuerfestsetzung sei nicht hinsichtlich
jedweder bei der Anwendung des § 10 Abs. 3 EStG a.F. streitig
gewordenen einfachgesetzlichen Rechtsfrage vorläufig
geworden.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger treten der Revision
entgegen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur
Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Entgegen der Auffassung des FG
haben die Kläger keinen Anspruch auf die begehrte
Änderung der Steuerfestsetzung.
1. Zwar ist die Berechnung des gemeinsamen
Vorwegabzugs im Einkommensteuerbescheid vom 11.7.2002 materiell
unrichtig. Wie der BFH mit Urteil in BFHE 204, 461, BStBl II 2004,
709 = SIS 04 13 67 entschieden hat, ist bei der Kürzung des
Vorwegabzugs in die Bemessungsgrundlage „Summe der
Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit“ nur der
Arbeitslohn desjenigen Ehegatten einzubeziehen, für den
Zukunftssicherungsleistungen i.S. des § 3 Nr. 62 EStG erbracht
worden sind oder der zum Personenkreis des § 10c Abs. 3 Nr. 1
oder 2 EStG gehört. Die nicht der Sozialversicherungspflicht
unterliegenden und auch nicht mit einer Anwartschaft auf eine
Altersversorgung verbundenen Geschäftsführerbezüge
des Klägers hätten bei der Kürzung daher nicht in
Ansatz gebracht werden dürfen. Die gegenteilige, auf R 106
Satz 3 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) 2001 gestützte
frühere Veranlagungspraxis der Finanzverwaltung ist von §
10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 EStG a.F. nicht gedeckt. Sie ist
gemäß Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen
(BMF) vom 13.8.2004 IV C 4 - S 2221 - 155/04 (BStBl I 2004, 848 =
SIS 04 35 60) in den noch offenen Fällen nicht mehr
fortzuführen.
2. Die Festsetzung der Einkommensteuer
für das Streitjahr ist mit Ablauf der einmonatigen
Einspruchsfrist gegen den Steuerbescheid vom 11.7.2002
bestandskräftig geworden. Da andere Änderungsvorschriften
nicht eingreifen, könnte der Einkommensteuerbescheid zugunsten
der Kläger nur dann geändert werden, wenn zum einen die
Frage der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die
Vorwegabzugskürzung bei zusammenveranlagten Ehegatten
Gegenstand einer vorläufigen Steuerfestsetzung war und wenn
zum anderen die insoweit bestehende Ungewissheit inzwischen
beseitigt ist (§ 165 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Beide
Voraussetzungen müssen nebeneinander vorliegen. Dies ist hier
nicht der Fall.
a) Nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann
die Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiss ist,
ob die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind.
Diese Regelung ist nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977 auch
anzuwenden, „wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes
mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, dem
Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht
ist“. Nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 kann die
Finanzbehörde die Steuerfestsetzung aufheben oder ändern,
„soweit (sie) eine Steuer vorläufig festgesetzt
hat“. Eine vorläufige Steuerfestsetzung ist
aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu
erklären, wenn die Ungewissheit beseitigt ist (§ 165 Abs.
2 Satz 2 Halbsatz 1 AO 1977).
b) Der hier zu beurteilende
Vorläufigkeitsvermerk vom 11.7.2002 erging
„hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit
von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG)“. Der
erkennende Senat folgt dem FG daher darin, dass von der
vorläufigen Steuerfestsetzung unter anderem auch die im Wege
der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG (Az.: 2 BvR 587/01)
vorgetragene Frage umfasst war, inwieweit die vollumfängliche
Kürzung des gemeinsamen Vorwegabzugs bei Ehegatten nach §
10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 EStG a.F. mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar
ist. Diese Verfassungsbeschwerde ist seit dem 2.4.2001 beim BVerfG
anhängig.
Insoweit kommt eine Änderung der
bestandskräftigen Steuerfestsetzung zumindest derzeit nicht in
Betracht. Die im Verfahren 2 BvR 587/01 zu behebende Ungewissheit
hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der
Kürzungsvorschriften des § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 EStG
a.F. ist bislang nicht beseitigt worden. Ein Beschluss des BVerfG
über die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung
(§ 93a des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - BVerfGG - )
oder gar in der Sache selbst ist bislang nicht ergangen.
Entgegen der Auffassung des FG sind
verfassungsrechtliche Zweifel an der Vereinbarkeit der
Vorwegabzugskürzung mit dem GG auch nicht bereits durch das
BFH-Urteil in BFHE 204, 461, BStBl II 2004, 709 = SIS 04 13 67
ausgeräumt worden. Diese Entscheidung berührt die in der
Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen
nicht.
aa) Mit der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 587/01
wendet sich der dortige Beschwerdeführer gegen den
BFH-Beschluss in BFH/NV 2001, 773 = SIS 01 65 23 und gegen das
diesem Beschluss vorausgegangene Urteil des FG Düsseldorf vom
21.4.1999 9 K 5414/96 E (juris Nr: STRE200271814 = SIS 03 12 44).
Gegenstand beider Entscheidungen war die Frage, ob auch bei
zusammenveranlagten Ehegatten eine individuelle Kürzung des
Vorwegabzugs dergestalt möglich ist, dass jedenfalls
demjenigen Ehegatten, der nicht durch vorwegabzugschädliche
Arbeitgeberleistungen i.S. des § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2
Buchst. a EStG a.F. begünstigt worden ist, noch ein eigener
Vorwegabzug von 6.000 DM (später: 3.068 EUR) verbleibt. Eine
solche getrennte, individuelle Kürzung des Vorwegabzugs anhand
der Einnahmen jedes einzelnen Ehegatten aus nichtselbständiger
Arbeit hatten sowohl das FG Düsseldorf als auch der BFH unter
Hinweis auf den einem zusammenveranlagten Ehegattenpaar nach §
10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 2. Alternative EStG a.F. zustehenden
einheitlichen, doppelten Vorwegabzug von 12.000 DM (später:
6.136 EUR) abgelehnt. Nach Auffassung beider Instanzen war der
Vorwegabzug daher über den Teilbetrag von 6.000 DM hinaus
gegebenenfalls auch dann bis zur vollen Höhe von 12.000 DM zu
kürzen, wenn der Arbeitgeber nur eines Ehegatten
vorwegabzugschädliche Zukunftssicherungsleistungen i.S. des
§ 3 Nr. 62 EStG erbracht hat.
bb) Im Verfahren 2 BvR 587/01 geht es um die
Frage, ob es verfassungsrechtlich geboten ist, auch im Falle der
Zusammenveranlagung die vorzunehmende Kürzung des gemeinsamen
- gegenüber der Einzelveranlagung verdoppelten - Vorwegabzugs
gegebenenfalls der Höhe nach auf den (hälftigen) Anteil
desjenigen Ehegatten zu beschränken, der im Rahmen seines
Arbeitsverhältnisses durch vorwegabzugschädliche
Arbeitgeberleistungen begünstigt worden ist.
Diese verfassungsrechtliche Fragestellung nach
der betragsmäßigen Beschränkung der Kürzung
auf einen Teilbetrag hat der BFH mit seinem Urteil in BFHE 204,
461, BStBl II 2004, 709 = SIS 04 13 67 nicht beantwortet. Denn jene
Entscheidung betrifft - wie bereits dargelegt (oben zu 1.) - die
Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Kürzung und
hat mit der Frage nach dem (Höchst-)Betrag, um den die
Kürzung aufgrund der ermittelten Bemessungsgrundlage maximal
erfolgen darf, nichts zu tun. Wie der BFH mehrfach
ausdrücklich hervorgehoben hat, ist die Rechtsproblematik
insoweit eine andere (BFH-Entscheidungen vom 14.4.2003 XI B 226/02,
BFHE 202, 294, BStBl II 2003, 708 = SIS 03 27 05, und in BFHE 204,
461, BStBl II 2004, 709 = SIS 04 13 67, jeweils zu II.2. der
Gründe; ausführlich hierzu Wüllenkemper, Anmerkung
in EFG 2005, 1022, 1023 f.; Müller-Dott, DB 2005, 15, 16; vgl.
auch Siegle, DStR 2005, 461, 462; Lehr, DStR 2003, 763, 765).
cc) Dass die mit der Verfassungsbeschwerde 2
BvR 587/01 aufgeworfenen Zweifel bislang nicht ausgeräumt
sind, ergibt sich insbesondere auch aus dem Umstand, dass sich
jenes Verfahren durch das BFH-Urteil in BFHE 204, 461, BStBl II
2004, 709 = SIS 04 13 67 in der Sache selbst keineswegs erledigt
hat.
Da in dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde
liegenden Ausgangsfall der durch vorwegabzugschädliche
Arbeitgeberleistungen begünstigte Ehegatte einen
vergleichsweise hohen Arbeitslohn bezogen hatte (im ersten
Streitjahr 110.908 DM und im folgenden Streitjahr 112.141 DM; vgl.
FG Düsseldorf, Urteil in juris Nr: STRE200271814), war der
gemeinsame Vorwegabzug beider Ehegatten von 12.000 DM schon durch
die Kürzung um 16 v.H. dieser Beträge vollständig
aufgezehrt worden. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene
Kürzung des Vorwegabzugs auf Null hatte in jenem Verfahren
unabhängig von der durch den BFH mittlerweile entschiedenen
Frage zu erfolgen, ob auch der Arbeitslohn des anderen, durch
vorwegabzugschädliche Arbeitgeberleistungen nicht
begünstigten Ehegatten in die Bemessungsgrundlage für die
Kürzung mit einzubeziehen war.
c) Hinsichtlich der im Streitfall
entscheidungserheblichen Frage nach der Ermittlung der
Bemessungsgrundlage in Fällen, in denen nur ein Ehegatte durch
vorwegabzugschädliche Arbeitgeberleistungen begünstigt
worden ist, ist der Einkommensteuerbescheid vom 11.7.2002 nicht
für vorläufig erklärt worden.
aa) In Fortführung des Senatsurteils in
BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791 = SIS 97 14 63 hat der XI. Senat
des BFH entschieden, dass sich ein Vorläufigkeitsvermerk der
hier streitigen Art nur auf mögliche Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit der in Bezug genommenen
gesetzlichen Regelungen bezieht, nicht aber auf sämtliche noch
offenen Fragen der Anwendung und Auslegung des einfachen
Gesetzesrechts. Er hat diese Einschränkung unter anderem auch
damit begründet, dass durch den anschließenden Zusatz,
wonach die Vorläufigkeitserklärung „nur aus
verfahrenstechnischen Gründen“ erfolge und nicht
dahin zu verstehen sei, dass die Regelung als verfassungswidrig
angesehen werde, objektiv hinreichend deutlich wird, dass der Grund
für die vorläufige Steuerfestsetzung die bestrittene
Verfassungsmäßigkeit der zitierten Norm ist. Wie der XI.
Senat des BFH weiter ausgeführt hat, berührt die
gerichtliche Überprüfung der hier zu beurteilenden
Verfahrensweise der Finanzverwaltung lediglich Fragen der Anwendung
und Auslegung des einfachen Rechts und wird deshalb von dem
genannten Vorläufigkeitsvermerk nicht erfasst (BFH-Urteil in
BFH/NV 2004, 1064 = SIS 04 30 02, bestätigt durch
BFH-Beschluss vom 24.6.2004 XI B 62/02, juris Nr: STRE200450848;
anderer Auffassung: Schmidt/Heinicke, EStG, 25. Aufl., § 10 Rz
201; Paus, DStZ 2005, 487, 488). Dem schließt sich der
erkennende Senat an.
bb) Ergänzend ist darauf hinzuweisen,
dass das erste Verfahren über die hier entscheidungserhebliche
Rechtsfrage beim BFH (Az.: XI B 226/02) erst im Dezember 2002 und
damit zu einem Zeitpunkt anhängig geworden ist, an dem die
Veranlagung der Kläger bereits durchgeführt war. Die
Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der auf § 10
Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 EStG a.F. gestützten Veranlagungspraxis
des FA ist daher auch aus diesem Grund nicht Gegenstand der
vorläufigen Steuerfestsetzung geworden. Denn der strittige
Vorläufigkeitsvermerk vom 11.7.2002 ist unter Hinweis auf
§ 165 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 ausdrücklich nur „im
Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere
gerichtliche Verfahren“ ergangen. Er erfährt dadurch
eine weitere, zweifache Einschränkung in zeitlicher
Hinsicht.
Wie der BFH mit Urteil in BFH/NV 2004, 1064 =
SIS 04 30 02 bereits entschieden hat, reicht die erst nach dem
Wirksamwerden des mit dem Vorläufigkeitsvermerk verbundenen
Steuerverwaltungsakts begründete gerichtliche
Anhängigkeit der Rechtsfrage nicht aus, um deren Einbeziehung
in den für vorläufig erklärten Teil der
Steuerfestsetzung herbeizuführen. Daran hält auch der
erkennende Senat fest. Die an der Entscheidung geübte Kritik
aus dem Schrifttum (Paus, DStZ 2005, 487, 488; Bartmann,
Steuer-Warte 2005, 250; Ende, DStR 2006, 878, 881) überzeugt
schon mit Blick auf den klaren Wortlaut des
Vorläufigkeitsvermerks nicht. Sie lässt zudem außer
Acht, dass die teilweise vorläufige Steuerfestsetzung nach
ihrem erkennbaren Sinn und Zweck nur insoweit offen bleiben soll,
als die Vereinbarkeit der ihr zugrunde liegenden Rechtsnormen mit
höherrangigem Recht bereits Gegenstand anderweitiger
gerichtlicher Überprüfung ist; im Übrigen hingegen
soll die Steuerfestsetzung bestandskräftig werden, wenn nicht
der Steuerpflichtige selbst durch Einlegung eines Einspruchs die
seines Erachtens erforderliche Klärung ermöglicht. Der
Vorläufigkeitsvermerk bietet daher keine Handhabe dafür,
zu einem späteren Zeitpunkt die nunmehr eingetretene
Bestandskraft im Übrigen aufgrund eines zwischenzeitlich von
dritter Seite anhängig gemachten Verfahrens partiell wieder zu
durchbrechen, so wie dies die genannte Literaturansicht für
wünschenswert hält.
Ferner sind „andere gerichtliche
Verfahren“ im Sinne des streitigen
Vorläufigkeitsvermerks nur solche Streitigkeiten, die bei
Ergehen des Steuerverwaltungsakts bereits beim Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften, beim BVerfG, beim BFH oder bei
einem anderen obersten Bundesgericht anhängig waren. Die
Anhängigkeit bei einem FG oder bei einem anderen Gericht der
unteren Instanzen genügt insoweit nicht (anderer Auffassung:
Paus, DStZ 2005, 487, 488). Erfolgt die Kennzeichnung des Bescheids
als teilweise vorläufig (wie im Streitfall) unter
ausdrücklicher Bezugnahme auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO
1977, so werden diejenigen Rechtsfragen, die bislang erst vor den
(in dieser Norm nicht genannten) Instanzgerichten aufgeworfen
worden sind, durch einen solchen Verweis von der vorläufigen
Steuerfestsetzung ausgenommen. Die Angabe der Rechtsgrundlage ist
ausreichend, um dem Steuerpflichtigen als Adressaten des
Vorläufigkeitsvermerks in geeigneter Weise vor Augen zu
führen, dass die Rechtsfolge der Vorläufigkeit nur
eintreten soll, soweit die dort enthaltenen tatbestandlichen
Voraussetzungen dies zulassen. Eine vollständige Wiedergabe
des Gesetzeswortlauts im Steuerbescheid ist nach Auffassung des
erkennenden Senats zur Präzisierung des
Vorläufigkeitsvermerks nicht erforderlich. Dem
Steuerpflichtigen kann es zugemutet werden, bei bestehenden
Zweifeln das Gesetz einzusehen, fachkundigen Rat einzuholen oder
gegebenenfalls zur Klärung der Reichweite des
Vorläufigkeitsvermerks Einspruch einzulegen.
3. In dem Umfang, in dem das FA den
Vorwegabzug unter Berufung auf R 106 Satz 3 EStR 2001 zu Unrecht
gekürzt hat, ist der Einkommensteuerbescheid daher in
Ermangelung einer entsprechenden vorläufigen Steuerfestsetzung
und eines innerhalb der Einspruchsfrist angebrachten (schlichten)
Änderungsantrags bestandskräftig geworden.
Die erstinstanzlich (hilfsweise) beantragte
Einbeziehung in den allgemeinen Vorläufigkeitsvermerk zur
beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10
Abs. 3 EStG) ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des
Einkommensteuerbescheids vom 11.7.2002. Für den Fall, dass das
BVerfG in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 2 BvR
587/01 zugunsten der dortigen Beschwerdeführer erkennt, dass
der (gekürzte oder ungekürzte) Vorwegabzug getrennt und
individuell für jeden Ehegatten einzeln zu ermitteln ist,
wäre alsdann auch der Bescheid der Kläger in dem sich aus
den dortigen Gründen ergebenden Umfang nach § 165 Abs. 2
Satz 2 AO 1977 abzuändern.