Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil
des Sächsischen Finanzgerichts vom 17.10.2016 6 K 1307/14 (Kg)
insoweit aufgehoben, als es sich auf den Kindergeldanspruch bis
einschließlich August 2014 bezieht.
Die Sache wird insoweit an das Sächsische Finanzgericht
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
1
|
I. Streitig ist die Weitergewährung
von Kindergeld für ein über 25 Jahre altes Kind.
|
|
|
2
|
Die Beigeladene ist die Mutter eines im
Juli 1987 geborenen Sohnes (S). Nachdem S das 25. Lebensjahr
vollendet hatte, attestierte ein am 22.12.2012 erstelltes
ärztliches Zeugnis S eine psychische Erkrankung, begleitet von
einem Drogenmissbrauch. Bei Chronifizierung der psychotischen
Störung durch weiteren Substanzkonsum könne eine
seelische Behinderung eintreten. Unter der Rubrik „vorrangige
Behinderung“ war ein Kreuz bei „seelische
Behinderung“ gesetzt. Das ärztliche Zeugnis diente der
Entscheidung über eine vollstationäre Unterbringung des
S, die sodann auch erfolgte.
|
|
|
3
|
Die Beklagte und Revisionsklägerin
(Familienkasse) bewilligte der Beigeladenen mit Bescheid vom
9.7.2013 Kindergeld für den zu diesem Zeitpunkt bereits
25-jährigen S wegen dessen Behinderung. Zugleich verfügte
sie ab Januar 2013 die Abzweigung des Kindergeldes an den
Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger).
|
|
|
4
|
Mit Bescheid vom 28.1.2014 hob die
Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Februar 2014
auf. Zur Begründung führte sie aus, dass die Behinderung
nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei. Da sich
die Sachlage und die Erkenntnisse der Familienkasse nicht
geändert hatten, stützte sie den Aufhebungsbescheid auf
§ 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und
verfügte auch die Aufhebung der Abzweigung.
|
|
|
5
|
Der Einspruch des Klägers blieb ohne
Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 26.8.2014 führte die
Familienkasse aus, dass ihr im Rahmen des § 70 Abs. 3 EStG
kein Ermessensspielraum zustehe.
|
|
|
6
|
Die dagegen gerichtete Klage hatte
teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab ihr insoweit statt,
als die Weitergewährung und Abzweigung des Kindergeldes bis
August 2014 begehrt wurde. § 70 Abs. 3 EStG sei eine
Ermessensvorschrift, die Familienkasse hätte daher
entsprechende Ermessenserwägungen bei der aufhebenden
Entscheidung anstellen müssen. Soweit der Kläger eine
Weitergewährung und Abzweigung des Kindergeldes ab September
2014 begehrte, wies es die Klage mangels Vorliegens einer den
Kläger belastenden Verwaltungsentscheidung als unzulässig
ab.
|
|
|
7
|
Mit der hiergegen gerichteten Revision
rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen
Rechts.
|
|
|
8
|
Die Familienkasse beantragt, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
|
|
|
9
|
Der Kläger und die Beigeladene haben
keinen Antrag gestellt.
|
|
|
10
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz
1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
|
|
|
11
|
1. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen,
dass § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG eine Ermessensvorschrift ist.
|
|
|
12
|
Nach § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG in der bei
Erlass des Aufhebungsbescheids vom 28.1.2014 geltenden Fassung
können materielle Fehler der letzten Festsetzung durch
Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt
werden. Neu festgesetzt oder aufgehoben wird mit Wirkung ab dem auf
die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder der Aufhebung der
Festsetzung folgenden Monat (§ 70 Abs. 3 Satz 2 EStG). Bei der
Neufestsetzung oder Aufhebung der Festsetzung nach § 70 Abs. 3
Satz 1 EStG ist § 176 der Abgabenordnung (AO) entsprechend
anzuwenden; dies gilt nicht für Monate, die nach der
Verkündung der maßgeblichen Entscheidung eines obersten
Gerichtshofs des Bundes beginnen (§ 70 Abs. 3 Satz 3
EStG).
|
|
|
13
|
a) Die Frage, ob § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG
der Verwaltung ein Ermessen einräumt, war bisher vom
Bundesfinanzhof (BFH) noch nicht entschieden. Die Auffassungen dazu
in Rechtsprechung und Literatur sind nicht einheitlich (für
Ermessenscharakter: Felix, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff,
EStG, § 70 Rz D 6; Avvento in Kirchhof, EStG, 17. Aufl.,
§ 70 Rz 4; Claßen in Lademann, EStG, § 70 EStG Rz
11; Bergkemper, FR 2000, 136, 138; Helmke in Helmke/Bauer,
Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung,
§ 70 Rz 16; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 70 EStG Rz
16; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.9.1998 12 K 131/97,
EFG 1999, 243; FG Köln, Urteil vom 7.10.1999 2 K 7548/98, EFG
2000, 81 = SIS 03 00 06; FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 4.8.2009 4 K
691/05, EFG 2010, 13 = SIS 09 35 98; für gebundene
Entscheidung dagegen: Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 36. Aufl.,
§ 70 Rz 7; Blümich/Treiber, § 70 EStG Rz 31;
Reuß in Bordewin/Brandt, § 70 EStG Rz 66; Pust in
Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 70
Rz 216; Tiedchen, DStZ 2000, 237; Greite in Korn, § 70 EStG Rz
18; Geurtz in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 70 Rz 17; FG
München, Urteil vom 25.9.2012 12 K 466/10, EFG 2013, 60 = SIS 12 32 35; FG Nürnberg, Urteil vom 20.11.2014 3 K 1533/13 = SIS 15 04 64). Der erkennende Senat entscheidet die Frage dahingehend,
dass § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG der Familienkasse bei der
Entscheidung über die Fehlerkorrektur kein Ermessen
einräumt. § 70 Abs. 3 Satz 1 regelt die Aufhebung oder
Neufestsetzung vielmehr als gebundene Entscheidung. Bei Vorliegen
der tatbestandlichen Voraussetzungen ist sie vorzunehmen.
|
|
|
14
|
aa) Zwar wird der im Wortlaut des § 70
Abs. 3 Satz 1 EStG enthaltene Begriff
„können“ auch für die Einräumung
eines Ermessensspielraums genutzt (Wernsmann in
Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 5 AO Rz 54, mit
Beispielen; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 36; Neumann in
Beermann/Gosch, § 5 AO Rz 9). Dies ist jedoch nicht zwingend.
Vielmehr kann dieser Begriff auch im Sinne eines sogenannten
„Kompetenz-Kann“ verstanden werden (Wernsmann in
HHSp, § 5 AO Rz 55). Davon ist im Fall des § 70 Abs. 3
Satz 1 EStG auszugehen. Der Begriff
„können“ bestimmt lediglich die beiden
Änderungsmöglichkeiten Neufestsetzung oder Aufhebung
(ebenso Reuß, EFG 2013, 62).
|
|
|
15
|
bb) Für eine gebundene Entscheidung
spricht auch der systematische Zusammenhang des § 70 Abs. 3
EStG zu § 70 Abs. 2 EStG. Denn § 70 Abs. 2 EStG sieht
ausdrücklich vor, dass bei Änderung der Verhältnisse
die Festsetzung aufzuheben oder zu ändern
„ist“. Gründe, warum bei Änderung der
Verhältnisse zwingend zu ändern ist, hingegen bei Annahme
eines Rechtsfehlers oder eines unzutreffenden Sachverhalts, der
Behörde - über die bereits gesetzlich normierte zeitliche
Beschränkung, eine Änderung nur für die Zukunft
vorzunehmen - zusätzlich auch ein Ermessensspielraum
einzuräumen ist, sind nicht erkennbar. Für dieses
Normverständnis sprechen insbesondere auch die
Gesetzesmaterialien. So sollte nach der Entwurfsbegründung
(BTDrucks 13/3084, S. 21) der neugeschaffene § 70 Abs. 3 EStG
„sicherstellen“, dass die Familienkassen
materielle Fehler der Kindergeldfestsetzung, z.B. Rechtsfehler, mit
Wirkung für die Zukunft beseitigen können. Es
„muss vermieden werden“, dass sie
„über einen Zeitraum von vielen Jahren an eine als
fehlerhaft erkannte Kindergeldfestsetzung gebunden
bleiben“ (Entwurfsbegründung BTDrucks 13/3084, S.
21). Von einem Ermessen ist dort keine Rede.
|
|
|
16
|
cc) § 70 Abs. 3 EStG selbst lässt
keine Kriterien erkennen, die für eine Ermessensausübung
leitend sein könnten. Lassen sich aber keine
Maßstäbe für einen Ermessensspielraum dahingehend
finden, unter welchen Umständen von einer durch
Tatbestandserfüllung möglichen Änderung einer
Steuerfestsetzung abgesehen werden kann, bedeutet
„können“ ein rechtliches Können und im
Hinblick darauf, dass die Familienkasse einen Steueranspruch nicht
zu Unrecht begründen darf, ein
„Müssen“ (ebenso zu § 174 Abs. 4 AO
BFH-Urteil vom 14.3.2012 XI R 2/10, BFHE 237, 391, BStBl II 2012,
653 = SIS 12 19 48, Rz 43; zu § 174 Abs. 3 AO BFH-Urteil vom
13.11.1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241 = SIS 86 06 49, unter II.2.b, jeweils m.w.N.).
|
|
|
17
|
dd) Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes
bedarf keiner Berücksichtigung durch die Einräumung eines
Ermessensspielraums. Denn diesem Gesichtspunkt wird zum einen
bereits dadurch Rechnung getragen, dass die Neufestsetzung oder
Änderung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG nur mit Wirkung
für die Zukunft vorgenommen werden darf. Zum anderen verweist
§ 70 Abs. 3 Satz 2 EStG in eingeschränktem Umfang auch
auf die Vertrauensschutzregelung des § 176 AO. Darüber
hinaus besteht kein Grund, das Vertrauen des Begünstigten zu
schützen, so dass regelmäßig nur in Betracht kommt,
eine rechtswidrige Festsetzung im Interesse der
Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der
Besteuerung durch Aufhebung oder Neufestsetzung zu korrigieren.
Ferner hat der BFH bereits entschieden, dass der Gesetzgeber auch
nicht verpflichtet war, Vertrauensschutzregelungen wie in § 45
Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch im
einkommensteuerrechtlichen Kindergeldrecht vorzusehen (dazu
BFH-Urteil vom 19.11.2008 III R 108/06, BFH/NV 2009, 357 = SIS 09 05 79).
|
|
|
18
|
2. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das
FG hat aus seiner Sicht zu Recht bislang offen gelassen, ob im
Übrigen die Aufhebungsvoraussetzungen des § 70 Abs. 3
Satz 1 EStG, nämlich die materiellen Fehler der letzten
Festsetzung, vorlagen. Die Sache wird daher gemäß §
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO an das FG zurückverwiesen, um
diesem Gelegenheit zu weiteren Feststellungen zu geben,
insbesondere zu der Frage, ob bei S eine Behinderung i.S. des
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vor Vollendung des 25.
Lebensjahres eingetreten ist.
|
|
|
19
|
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
|