Auf die Beschwerde der Klägerin wegen
Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Hessischen
Finanzgerichts vom 29.7.2015 5 K 504/15 aufgehoben.
Die Sache wird an das Hessische Finanzgericht
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des
Beschwerdeverfahrens übertragen.
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I. Die Klägerin und
Beschwerdeführerin (Klägerin) ist die Mutter einer im
September 1989 geborenen Tochter (T). T nahm an einem
siebensemestrigen berufsbegleitenden Studiengang teil, brach diesen
jedoch vorzeitig ab.
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Die Beklagte und Beschwerdegegnerin
(Familienkasse) hob die zugunsten der Klägerin für T
erfolgte Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 6.1.2014 auf und
forderte das insoweit für den Zeitraum Juni 2013 bis November
2013 bereits ausbezahlte Kindergeld in Höhe von 1.104 EUR von
der Klägerin zurück. Der Bescheid wurde
bestandskräftig.
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Ein insoweit wegen Steuerhinterziehung und
Betrugs durchgeführtes strafrechtliches Ermittlungsverfahren
wurde nach § 153 Abs. 1 der Strafprozessordnung wegen
Geringfügigkeit eingestellt. Mit weiterem Bescheid vom
5.1.2015 setzte die Familienkasse gegen die Klägerin
Hinterziehungszinsen in Höhe von 25 EUR fest. Das dagegen
geführte Einspruchsverfahren blieb ohne Erfolg
(Einspruchsentscheidung vom 12.2.2015).
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Im sich anschließenden Klageverfahren
machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, sie sei zwar
bereit, die 25 EUR zu zahlen, wehre sich aber gegen den Vorwurf der
Steuerhinterziehung. Ihre Tochter habe bereits ein eigenes Leben
geführt, den Ausbildungsabbruch nicht rechtzeitig mitgeteilt
und diesen erst auf mehrfache Nachfrage auf das Ende des
Schuljahres 2012/2013 datiert.
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Entgegen der formblattmäßigen
Verfügung des Vorsitzenden wies das Finanzgericht (FG) nur die
Familienkasse, nicht hingegen die Klägerin darauf hin, dass
der Rechtsstreit gemäß §§ 5 Abs. 3 Satz 1, 6
Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf den Einzelrichter
übertragen werden kann. Mit Beschluss vom 1.6.2015 wurde der
Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
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Dieser legte den Beteiligten in einem
Schreiben vom 1.6.2015 seine Rechtsauffassung dar. Ferner enthielt
das Schreiben folgenden Zusatz: „Es wird darauf hingewiesen,
dass das Gericht bei einem Streitwert von 25,00 EUR alsbald ein
Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO
fällen wird. Frist: 4 Wochen“. Mit Schreiben vom
4.7.2015 machte die Klägerin weitere Ausführungen zur
Sache. Sodann wies der Einzelrichter die Klage am 29.7.2015
gemäß § 94a FGO ohne mündliche Verhandlung
ab.
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Mit ihrer Beschwerde begehrt die
Klägerin, die Revision gegen das Urteil wegen
grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und
Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) zuzulassen.
Letztere ergäben sich daraus, dass das FG den Rechtsstreit
ohne vorherige Anhörung auf den Einzelrichter übertragen
und zu Unrecht nicht darauf hingewiesen habe, dass es ohne
mündliche Verhandlung entscheiden werde.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist
zulässig und begründet; sie führt zur Aufhebung der
Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an
das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116
Abs. 6 FGO).
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1. Das FG hat das grundrechtsgleiche Recht der
Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des
Grundgesetzes - GG - ) verletzt, da es ohne mündliche
Verhandlung entschieden hat, ohne dies der Klägerin zuvor in
hinreichender Deutlichkeit mitzuteilen. Hierin liegt ein
Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruht (§
115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
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a) Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) begründet Art. 103 Abs. 1
GG zwar keinen Anspruch auf die Durchführung einer
mündlichen Verhandlung, stellt jedoch sicher, dass sich jeder
Verfahrensbeteiligte vor dem Erlass einer gerichtlichen
Entscheidung zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt
äußern und Anträge stellen kann (Kammerbeschluss
des BVerfG vom 18.11.2008 2 BvR 290/08, NJW -
Rechtsprechungs-Report Zivilrecht - NJW-RR - 2009, 562, m.w.N.).
Insoweit hielt es das BVerfG in einem Fall, in dem ein Zivilgericht
gemäß § 495a der Zivilprozessordnung (ZPO) im
vereinfachten Verfahren ohne Durchführung einer
mündlichen Verhandlung entschieden hatte, für
unbeachtlich, dass diese Prozessrechtsnorm selbst eine Anordnung
des schriftlichen Verfahrens nicht vorschreibt. Denn es leitete
eine dahingehende Pflicht des Gerichts unmittelbar aus Art. 103
Abs. 1 GG ab. Zur Begründung verwies es darauf, dass den
Parteien sonst die Möglichkeit genommen werde, einen Antrag
auf mündliche Verhandlung gemäß § 495a Satz 2
ZPO zu stellen (BVerfG-Kammerbeschlüsse in NJW-RR 2009, 562;
vom 4.8.1993 1 BvR 279/93, NJW-RR 1994, 254, und Senatsbeschluss
vom 14.6.1983 1 BvR 545/82, BVerfGE 64, 203). Um dieses
Antragsrecht nicht einzuschränken, muss das Gericht, wenn es
sich für ein schriftliches Verfahren entscheidet, den Parteien
seine Absicht und den Zeitpunkt mitteilen, bis zu dem die Parteien
ihr Vorbringen in den Prozess einführen können
(BVerfG-Kammerbeschluss in NJW-RR 2009, 562).
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Diese Grundsätze finden auch auf das
finanzgerichtliche Verfahren Anwendung. Wie § 495a Satz 1 ZPO
ermöglicht § 94a Satz 1 FGO bei Einhaltung der dort
geregelten Streitwertgrenze ein Verfahren nach billigem Ermessen
und mithin ein schriftliches Verfahren. Entsprechend § 495a
Satz 2 ZPO räumt § 94a Satz 2 FGO den Beteiligten das
Recht ein, mittels eines Antrags eine mündliche Verhandlung
herbeizuführen.
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Zwar hatte der Bundesfinanzhof (BFH) bislang
in ständiger Rechtsprechung entschieden, aus § 94a FGO
ergebe sich kein solches Hinweiserfordernis (BFH-Beschlüsse
vom 10.1.1995 IV B 90/94, BFH/NV 1995, 802; vom 11.1.1995 II B
64/94, BFH/NV 1995, 705; vom 16.6.1995 X B 237/94, BFH/NV 1995,
1062 = SIS 95 23 31; vom 26.3.1996 XI B 132/95, BFH/NV 1996, 696;
vom 19.4.1996 VIII B 41/95, BFH/NV 1996, 745 = SIS 96 17 11; vom
17.5.2001 IX R 67/98, BFH/NV 2001, 1290 = SIS 01 75 68; vom
27.5.2002 VII B 187/01, BFH/NV 2002, 1356 = SIS 02 94 61, und vom
3.11.2004 X B 121/03, BFH/NV 2005, 350 = SIS 05 12 42; ebenso
bereits zur Vorgängervorschrift des Art. 3 § 5 des
Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und
Finanzgerichtsbarkeit vgl. BFH-Beschlüsse vom 22.7.1983 VI B
180/82, BFHE 139, 22, BStBl II 1983, 762 = SIS 83 20 46, und vom
5.6.1986 IX R 152/84, BFH/NV 1986, 629). Diese Rechtsprechung ist
aber durch die Entscheidung des BVerfG in NJW-RR 2009, 562
überholt (in diesem Sinne auch Brandis in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 94a FGO Rz 2;
Loschelder, Der AO-Steuerberater 2009, 272). Denn danach ist die
Hinweispflicht unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleiten.
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Einer Divergenzanfrage bei den betroffenen
Senaten gemäß § 11 Abs. 3 FGO bedarf es nicht, da
die durch das BVerfG vorgenommene Auslegung des Art. 103 Abs. 1 GG
gemäß § 31 Abs. 1 des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) für alle Gerichte
bindend ist (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 1.12.1997 II ZR
85/97, HFR 1998, 687 = SIS 98 18 99; Sunder-Plassmann in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 11 FGO Rz 61; Brandis in
Tipke/Kruse, a.a.O., § 11 FGO Rz 8;
Zöller/Lückemann, ZPO, 31. Aufl., § 132 GVG Rz
4).
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b) Im Streitfall hat das FG dieser
Hinweispflicht nicht genügt. Zum einen ist aus dem Hinweis
„alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen
gemäß § 94a FGO fällen“ zu wollen,
jedenfalls bei einem nicht fachkundig vertretenen Beteiligten - wie
im Streitfall der Klägerin - nicht mit hinreichender
Deutlichkeit die Absicht des Gerichts erkennbar, im schriftlichen
Verfahren entscheiden zu wollen. Zum anderen lässt sich aus
dem apodiktischen Hinweis „Frist: 4 Wochen“
nicht mit hinreichender Klarheit ableiten, dass es sich insoweit um
die Frist handelt, bis zu der die Beteiligten ihr Vorbringen noch
in den Prozess einführen können; dies gilt erst recht
für nicht fachkundig vertretene Beteiligte.
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2. Kein Verfahrensfehler ist gegeben, soweit
das FG den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen hat,
ohne die Klägerin vorher anzuhören. Eine solche vorherige
Anhörung ist in § 6 Abs. 1 FGO - anders als im Fall der
Rückübertragung nach § 6 Abs. 3 FGO - nicht
vorgesehen, was den Schluss zulässt, dass der Gesetzgeber bei
der Übertragung von einer Anhörung absehen wollte
(ständige BFH-Rechtsprechung, z.B. Urteil vom 16.9.1999 XI R
83/97, BFH/NV 2000, 332 = SIS 00 52 48; Beschluss vom 22.1.2009
VIII B 78/08, BFH/NV 2009, 779 = SIS 09 12 75). Im Übrigen
könnte jedenfalls das Schreiben vom 4.7.2015, in dem die
Klägerin die nunmehr mit der Beschwerde vorgebrachten
Einwände nicht geltend gemacht hat, als rügelose
Einlassung gedeutet werden, die der Geltendmachung des
Verfahrensmangels entgegenstünde (BFH-Beschluss vom 21.10.2011
VII B 69/11, BFH/NV 2012, 248 = SIS 12 00 61).
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3. Da das Urteil bereits aufgrund des unter 1.
dargestellten Verfahrensfehlers keinen Bestand haben kann, bedarf
es keines Eingehens auf das weitere Vorbringen der Klägerin.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz
2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO
gilt, abgesehen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25.10.2012 X B 22/12,
BFH/NV 2013, 226 = SIS 13 01 59; vom
23.9.2002 IV B 156/00, BFH/NV 2003, 191 = SIS 03 08 52).
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4. Im Übrigen weist der Senat - ohne
Bindungswirkung - auf Folgendes hin. Hinsichtlich des subjektiven
Tatbestands der Steuerhinterziehung kommt bei der Prüfung des
Vorliegens eines bedingten Vorsatzes der Abgrenzung zur (bewussten)
Fahrlässigkeit besondere Bedeutung zu (s. hierzu etwa Ransiek
in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz 610 ff.).
Entscheidend für das Vorliegen des bedingten Vorsatzes ist
dabei, dass der Täter nicht auf die Richtigkeit seiner Angaben
vertraut, sondern es wenigstens ernsthaft für möglich
hält und billigt, dass er die Finanzbehörde über
steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt (s. hierzu
Ransiek in Kohlmann, a.a.O., § 370 AO Rz 614, 625). Insoweit
könnte bei der Gesamtwürdigung der Umstände
insbesondere auch von Bedeutung sein,
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- durch welches Ereignis und an welchem Tag
genau der Studiengang abgebrochen wurde sowie wann die Ausschulung
erfolgte,
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- ob und gegebenenfalls in welcher Form und
Art und Weise der Informationsaustausch zwischen T und der
Klägerin vereinbart war und tatsächlich stattfand,
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- wann die Klägerin von dem genauen
Abbruch- und dem Ausschulungstermin erfuhr oder ab wann ihr
sonstige Umstände bekannt wurden, die auf einen vorzeitigen
Abbruch des Studiengangs hindeuteten, und
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- wann die Klägerin vor Abbruch des
berufsbegleitenden Studiengangs durch T die Familienkasse zuletzt
über das Fortbestehen der Anspruchsvoraussetzungen informiert
hatte.
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5. Der Senat hält es für
sachgerecht, die Vorentscheidung nach § 116 Abs. 6 FGO
aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
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6. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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