Auf die Revision des Klägers werden das
Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 23.1.2013 3 K
12326/12 und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom
23.10.2012 aufgehoben.
Die Einkommensteuer wird unter Abänderung des
Einkommensteuerbescheids des Beklagten vom 24.8.2012 auf 3.485 EUR
festgesetzt.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
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I. Streitig ist, ob die Meldung des Kindes
in der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen für
Zwecke des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende eine
unwiderlegbare Vermutung der Haushaltszugehörigkeit
begründet.
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Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist seit Februar 2005 verwitwet. Er bezog im
Streitjahr 2010 für seine im Januar 1989 geborene Tochter (T)
Kindergeld. T wohnte in einer eigenen Wohnung und nicht in der
Wohnung des Klägers. T war jedoch in der Wohnung des
Klägers mit Wohnsitz gemeldet.
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In dem unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung ergangenen Einkommensteuerbescheid für 2010
vom 13.2.2012 berücksichtigte der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) zunächst
erklärungsgemäß den Entlastungsbetrag für
Alleinerziehende. Mit Bescheid vom 24.8.2012 änderte das FA
die Einkommensteuerfestsetzung 2010 gemäß § 164
Abs. 2 der Abgabenordnung aus verschiedenen Gründen; u.a.
erkannte es den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende nicht
mehr an.
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Der dagegen gerichtete Einspruch, mit
welchem der Kläger die Gewährung des Entlastungsbetrags
für Alleinerziehende begehrte, hatte keinen Erfolg
(Einspruchsentscheidung vom 23.10.2012). Die hiergegen erhobene
Klage wurde vom Finanzgericht (FG) mit seinem in EFG 2013, 1124 =
SIS 13 18 77 veröffentlichten Urteil abgewiesen. Zur
Begründung führte das FG im Wesentlichen aus, die in
§ 24b Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG)
aufgestellte Vermutung betreffend die Haushaltszugehörigkeit
eines Kindes könne widerlegt werden und sei im Streitfall
widerlegt worden.
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Hiergegen wendet sich der Kläger mit
der Revision. Er macht im Wesentlichen geltend, § 24b Abs. 1
Satz 2 EStG enthalte eine unwiderlegbare Vermutung. Etwas anderes
ergebe sich weder aus der vom FG zitierten Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) noch aus möglichen
Verstößen gegen das Melderecht.
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Der Kläger beantragt
sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und den
Einkommensteuerbescheid 2010 vom 24.8.2012 und die hierzu ergangene
Einspruchsentscheidung vom 23.10.2012 dahingehend abzuändern,
dass die Einkommensteuer 2010 auf den Betrag herabgesetzt wird, der
sich ergibt, wenn ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende
in Höhe von 1.308 EUR berücksichtigt wird.
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Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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Zur Begründung macht es im
Wesentlichen geltend, der Meldebescheinigung könne keine
Beweiswirkung zukommen, wenn die tatsächlichen
Verhältnisse offensichtlich von den melderechtlichen
Verhältnissen abwichen und die Abweichung auf melderechtlichen
Versäumnissen beruhe.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur
Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Der Senat setzt die
Einkommensteuer 2010 unter Gewährung des Entlastungsbetrags
für Alleinerziehende auf 3.485 EUR fest (§ 121 Satz 1
i.V.m. § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO). Das FG hat zu Unrecht
angenommen, dass die Vermutung des § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG
widerlegt werden kann.
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1. Alleinstehende Steuerpflichtige können
nach § 24b Abs. 1 Satz 1 EStG einen Entlastungsbetrag in
Höhe von 1.308 EUR im Kalenderjahr von der Summe der
Einkünfte abziehen, wenn zu ihrem Haushalt mindestens ein Kind
gehört, für das ihnen ein Freibetrag nach § 32 Abs.
6 EStG oder Kindergeld zusteht. Die Zugehörigkeit zum Haushalt
ist nach § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG anzunehmen, wenn das Kind in
der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist.
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2. Ein Kind, das - wie im Streitfall - zwar in
der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist,
aber tatsächlich in einer eigenen Wohnung lebt, gehört
i.S. des § 24b Abs. 1 Satz 1 EStG zum Haushalt des
Steuerpflichtigen. Die Meldung nach § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG
begründet eine unwiderlegbare Vermutung der
Haushaltszugehörigkeit (gl.A. Blümich/ Selder, § 24b
EStG Rz 23; Schmidt/Loschelder, EStG, 33. Aufl., § 24b Rz 12;
a.A. Dürr in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 24b Rz 10;
Krömker in Herrmann/Heuer/Raupach, § 24b EStG Rz 11;
Seiler in Kirchhof, EStG, 14. Aufl., § 24b Rz 4;
Jachmann/Henschler, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG,
§ 24b Rz B 4; Steiner in Lademann, EStG, § 24b Rz 11).
Das vom Senat vertretene Gesetzesverständnis beruht auf einer
am Wortlaut, den Gesetzesmaterialien und der Gesetzessystematik
orientierten Auslegung des § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG.
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a) Der Wortlaut des § 24b Abs. 1 Satz 2
EStG deutet erkennbar darauf hin, dass es sich um eine
unwiderlegbare Vermutung handelt („Die Zugehörigkeit
zum Haushalt ist anzunehmen, wenn ...“). Er enthält
keine Anhaltspunkte dafür, dass bei Vorliegen einer Meldung
die vom Gesetz unterstellte Haushaltszugehörigkeit widerlegt
werden kann.
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b) In den Gesetzesmaterialien zu dem im
Streitjahr anwendbaren § 24b Abs. 1 EStG in der Fassung des
Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze
vom 21.7.2004 (BGBl I 2004, 1753) heißt es: „Bei
Meldung des Steuerpflichtigen und seines Kindes mit Haupt- oder
Nebenwohnsitz unter einer gemeinsamen Adresse wird durch die
Neuregelung gesetzlich fingiert, dass das Kind zum Haushalt
gehört (räumliches Zusammenleben bei gemeinsamer
Versorgung).“ (BTDrucks 15/3339, S. 11). Der Gesetzgeber
wollte mithin eine unwiderlegbare Vermutung schaffen.
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c) Dass § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG als
unwiderlegbare Vermutung gewollt ist, folgt auch aus dem
systematischen Zusammenhang mit § 24b Abs. 1 Satz 3 EStG und
§ 24b Abs. 2 EStG.
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aa) § 24b Abs. 1 Satz 3 EStG trifft eine
Kollisionsregelung für den Fall, dass ein Kind bei mehreren
Steuerpflichtigen gemeldet ist. Es kommt dann auf die
tatsächliche Haushaltsaufnahme (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG)
an. Wenn die Vermutung gemäß § 24b Abs. 1 Satz 2
EStG grundsätzlich widerlegbar wäre, hätte es dieser
Regelung nicht bedurft.
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bb) Während nach § 24b Abs. 1 Satz 2
EStG infolge der Meldung die Haushaltszugehörigkeit anzunehmen
ist, vermutet § 24b Abs. 2 Satz 2 EStG das Bestehen einer
Haushaltsgemeinschaft, wobei diese Vermutung nach § 24b Abs. 2
Satz 3 EStG ausdrücklich widerlegbar ist. Beide Regelungen
stehen in engem Zusammenhang und betreffen unterschiedliche
Voraussetzungen für die Gewährung des Entlastungsbetrags
für Alleinerziehende. Hätte daher der Gesetzgeber das
Tatbestandsmerkmal der Haushaltszugehörigkeit i.S. des §
24b Abs. 1 Satz 2 EStG ebenfalls als widerlegbare Vermutung
ausgestalten wollen, hätte er dies - wie in Abs. 2 Sätze
2 und 3 geschehen - auch in Abs. 1 zum Ausdruck bringen
müssen.
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Hieran fehlt es. Die unterschiedliche
Ausgestaltung dieser „Vermutungsregeln“ belegt,
dass auch unterschiedliche Rechtsfolgen herbeigeführt werden
sollten.
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3. Der Anspruch auf den Entlastungsbetrag wird
auch durch den vom FG für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2
FGO; vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 10.7.2002 X R 89/98, BFHE
199, 441, BStBl II 2003, 72 = SIS 03 01 36, unter II.3.b)
festgestellten Verstoß gegen das Niedersächsische
Meldegesetz nicht ausgeschlossen.
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a) Dies ergibt sich zum einen aus dem Wesen
einer unwiderlegbaren Vermutung. Eine unwiderlegbare Vermutung kann
ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie davon unabhängig ist,
ob eine Abweichung vom tatsächlichen Sachverhalt vorliegt und
worauf diese beruht (vgl. Prütting in Münchener Kommentar
zur ZPO, 3. Aufl., § 292 Rz 4).
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b) Zum anderen bestehen nach Wortlaut und
Systematik keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vermutung der
Haushaltszugehörigkeit widerlegbar sein soll.
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Dies deutet darauf hin, dass das Gesetz auch
bei Verstößen gegen das Melderecht die Unwiderlegbarkeit
der Vermutung nicht beseitigen will.
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4. § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG begegnet als
unwiderlegbare Vermutung keinen verfassungsrechtlichen
Bedenken.
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a) Die unwiderlegbare Vermutung ist
gerechtfertigt durch ihren Vereinfachungszweck und die
Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers (vgl. BVerfG-Beschluss vom
12.10.2010 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 = SIS 10 36 57, unter
D.I., m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerfG).
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b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus
dem Beschluss des BVerfG vom 22.5.2009 2 BvR 310/07, BStBl II 2009,
884 = SIS 09 27 20. Die vom BVerfG dort angestellte Erwägung,
soweit § 24b EStG auf die tatsächlichen Verhältnisse
abstelle, sei die Finanzbehörde nicht durch das Gesetz
gehindert, diese Verhältnisse aufzuklären, betrifft nur
§ 24b Abs. 2 EStG. Sie steht im Zusammenhang mit der Frage, ob
§ 24b EStG im Hinblick auf die Beanstandungen des
Bundesrechnungshofs in seinen Bemerkungen 2006 zur Haushalts- und
Wirtschaftsführung des Bundes (BTDrucks 16/3200, S. 212) unter
einem strukturellen Vollzugsdefizit leide. Diese Beanstandungen
bezogen sich nicht auf das Tatbestandsmerkmal der
Haushaltszugehörigkeit von Kindern gemäß § 24b
Abs. 1 EStG, sondern auf das Tatbestandsmerkmal des Alleinstehens
der Steuerpflichtigen gemäß § 24b Abs. 2 EStG. Die
Frage der Haushaltszugehörigkeit von Kindern und ihres
Nachweises war in dem der Entscheidung des BVerfG zugrunde
liegenden Fall nicht strittig.
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5. Der Senat nimmt die
Einkommensteuerfestsetzung 2010, die keinen großen Aufwand
erfordert, selbst vor (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 100 Abs. 2
Satz 1 FGO). Der Steuerberechnung ist ein gegenüber dem
angefochtenen Steuerbescheid um 1.308 EUR niedrigeres zu
versteuerndes Einkommen in Höhe von 16.570 EUR zugrunde zu
legen. Bei im Übrigen unveränderten
Besteuerungsgrundlagen ergeben sich damit ein besonderer Steuersatz
(§ 32b EStG) von 18,36 % und eine Einkommensteuer nach dem
Grundtarif in Höhe von 3.042 EUR. Damit ist die
Einkommensteuer - unter Berücksichtigung der
Steuerermäßigung für Handwerkerleistungen (./. 53
EUR) sowie des gesonderten Tarifs für Einkünfte aus
Kapitalvermögen (+ 157 EUR) und der Altersvorsorgezulage (+
339 EUR) - auf 3.485 EUR festzusetzen.
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6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus
§ 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.
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