1
|
I. Der Antragsteller und
Beschwerdeführer (Antragsteller) erbrachte in den Streitjahren
2003 bis 2010 als freier Mitarbeiter aufgrund eines mit der
Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) abgeschlossenen Vertrages
Dozentenleistungen für den Besucherdienst beim Deutschen
Bundestag. Zu seinen Aufgaben gehörte es, in Vorträgen
und Führungen im Bereich der Liegenschaften des Deutschen
Bundestages dessen Gäste über die deutsche
Parlamentsgeschichte, über Funktion, Struktur und Arbeitsweise
der deutschen Volksvertretung sowie über die demokratischen
Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zu informieren. Zur
Zielgruppe dieser Veranstaltungen gehörten Schüler, die
im Rahmen von mit öffentlichen Geldern bezuschussten
Bildungsfahrten den Deutschen Bundestag besuchten. Das
Besucherangebot richtete sich auch an Ausbildungsgänge der
Bundeswehr, Lehrer und andere Ausbilder sowie an sonstige
Multiplikatoren im Bereich der politischen Bildung.
|
|
|
2
|
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das
Finanzamt - FA - ) erließ am 9.10.2012 nach § 164 Abs. 2
der Abgabenordnung geänderte Umsatzsteuerbescheide für
2003 bis 2010, in denen er die Leistungen des Antragstellers
für den Besucherdienst des Deutschen Bundestages als
steuerpflichtig ansah. Hiergegen legte der Antragsteller Einspruch
ein, den das FA als unbegründet zurückwies. Über die
vom Antragsteller eingereichte Klage zum Finanzgericht (FG) hat das
FG noch nicht entschieden.
|
|
|
3
|
Im Anschluss an eine
Finanzkassenkontenmitteilung vom 8.11.2013, nach der fällige
und nicht getilgte Steuerbeträge zur Umsatzsteuer 2006 in
Höhe von 5.527,44 EUR, zur Umsatzsteuer 2008 in Höhe von
7.166,05 EUR, zur Umsatzsteuer 2009 in Höhe von 10.576,15 EUR
und zur Umsatzsteuer 2010 in Höhe von 8.419,10 EUR bestanden,
beantragte der Antragsteller am 22.11.2012 Aussetzung der
Vollziehung (AdV). Diesen Antrag lehnte das FA mit Verfügung
vom 8.1.2014 ab. Auch der beim FG gestellte Aussetzungsantrag hatte
keinen Erfolg.
|
|
|
4
|
Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde
macht der Antragsteller geltend, dass seine Leistungen zumindest
nach der Richtlinie des Rates vom 28.11.2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) und der
hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union (EuGH) steuerfrei seien und ihm daher AdV
zu gewähren sei.
|
|
|
5
|
Der Antragsteller beantragt, die
Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 2003 bis 2010 vom 9.10.2012
in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 30.11.2012 ab
Fälligkeit bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung einer
erstinstanzlichen Entscheidung im Klageverfahren gegen diese
Bescheide in Höhe von 31.688,74 EUR auszusetzen.
|
|
|
6
|
Das FA beantragt, die Beschwerde
zurückzuweisen.
|
|
|
7
|
II. Die gemäß § 128 Abs. 3 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde des
Antragstellers, mit der sich der Antragsteller nicht gegen seine
Unternehmereigenschaft, sondern gegen die Steuerpflicht seiner
Leistungen wendet, ist begründet. Unter Aufhebung des
angefochtenen Beschlusses ist die beantragte AdV zu gewähren.
Der Senat legt dabei das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers
dahingehend aus, dass er die Vollziehungsaussetzung der nach der
Finanzkassenkontenmitteilung vom 8.11.2013 fälligen
Umsatzsteuerbeträge erstrebt. Die Summe der dort fällig
gestellten Beträge entspricht dem bezifferten Antrag des
Antragstellers.
|
|
|
8
|
In der Sache bestehen an der sich nach
nationalem Recht ergebenden Steuerpflicht im Hinblick auf das Recht
des Antragstellers, sich auf das für ihn günstigere
Unionsrecht zu berufen, ernstliche Zweifel.
|
|
|
9
|
1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69
Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines
angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen,
wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel i.S.
von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei
summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben
für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen
gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder
Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in
der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken
(ständige Rechtsprechung seit dem Beschluss des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10.2.1967 III B 9/66, BFHE 87, 447,
BStBl III 1967, 182 = SIS 67 01 06; BFH-Beschluss vom 8.4.2009 I B
223/08, BFH/NV 2009, 1437 = SIS 09 26 67). Die Entscheidung
hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen
summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus
dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl.
BFH-Beschluss vom 7.9.2011 I B 157/10, BFHE 235, 215, BStBl II
2012, 590 = SIS 11 37 51, unter II.2., m.w.N.). Zur Gewährung
der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die
Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer
Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (BFH-Beschluss in BFHE
235, 215, BStBl II 2012, 590 = SIS 11 37 51, unter II.2.).
|
|
|
10
|
2. Im Streitfall sind die Leistungen des
Antragstellers nach nationalem Recht steuerpflichtig. Weder in der
Person des Antragstellers noch in der seines Auftraggebers liegen
die Voraussetzungen des § 4 Nr. 21 Buchst. a des
Umsatzsteuergesetzes (UStG) vor. Daher können die Leistungen
des Antragstellers auch nicht nach § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG
steuerfrei sein.
|
|
|
11
|
3. Entgegen dem Beschluss des FG ist jedoch
ernstlich zweifelhaft, ob die nach nationalem Recht bestehende
Steuerpflicht mit dem Unionsrecht in Einklang steht.
|
|
|
12
|
a) Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwStSystRL
befreien die Mitgliedstaaten von der Steuer die Erziehung von
Kindern und Jugendlichen, den Schul- und Hochschulunterricht, die
Aus- und Fortbildung sowie die berufliche Umschulung und die damit
eng verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von
Gegenständen. Begünstigt werden die Leistungen durch
Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die mit solchen
Aufgaben betraut sind, oder durch andere Einrichtungen mit von dem
betreffenden Mitgliedstaat anerkannter vergleichbarer Zielsetzung.
Steuerfrei ist zudem nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. j MwStSystRL der
von Privatlehrern erteilte Schul- und Hochschulunterricht.
|
|
|
13
|
b) Die vom Antragsteller erbrachten Leistungen
stellen bei summarischer Prüfung Schulunterricht i.S. von Art.
132 Abs. 1 Buchst. i und j MwStSystRL dar. Der Antragsteller
behandelte in seinen Führungen und Vorträgen
staatspolitische und historische Themen. Aufgabe war es, die
Ausbildung in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu
vervollständigen und Kenntnisse und Kompetenzen zu vermitteln,
die relevant sind im Kontext der Rahmenlehrpläne für
Geschichte und Sozialkunde.
|
|
|
14
|
Bestätigt wird dies durch die
Feststellungen des FG, nach denen es zu den Aufgaben des
Antragstellers gehörte, in Vorträgen und Führungen
im Bereich der Liegenschaften des Deutschen Bundestages dessen
Gäste insbesondere über die deutsche
Parlamentsgeschichte, über Funktion, Struktur und Arbeitsweise
der deutschen Volksvertretung sowie über die demokratischen
Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zu informieren. Zu den
wesentlichen Zielgruppen dieser Veranstaltungen zählten
Schüler, die im Rahmen mit öffentlichen Geldern
bezuschusster Bildungsfahrten den Bundestag besuchten. Des Weiteren
richtete sich das Besuchsangebot an Ausbildungsgänge der
Bundeswehr, Lehrer und andere Ausbilder sowie an sonstige
Multiplikatoren im Bereich der politischen Bildung. Vornehmlich
gegenüber Schülern der 12. und 13. Jahrgangsstufe bezogen
sich die Veranstaltungen auch auf zum Teil auf mehrere Tage
angelegte Planspiele, die den Gesetzgebungsprozess im Deutschen
Bundestag simulieren und den Teilnehmern neben inhaltlichen und
prozeduralen Kenntnissen ein besseres Verständnis von den
Möglichkeiten und Grenzen politischer Gestaltung im
parlamentarischen System vermitteln sollten. Die vorhergehende enge
Abstimmung zwischen den die Schüler begleitenden Fachlehrern
und den für den Besucherdienst des Deutschen Bundestages
eingesetzten Honorarkräften zielte dabei auf eine Einbindung
des Informationsstoffs in die jeweiligen Lehrpläne.
Ähnlichen Zwecken dienten auch die Parlamentsseminare, in
denen Schüler vornehmlich höherer Klassenstufen,
Auszubildende von Landes- und Bundesbehörden oder etwa
Polizei- und Offiziersanwärter politische Fragestellungen mit
entsprechenden Fachpolitikern aller Fraktionen erörtern
konnten.
|
|
|
15
|
c) Der Antragsteller erfüllte bei
summarischer Prüfung auch die unternehmerbezogenen
Voraussetzungen für die nach dem Unionsrecht zu
gewährende Steuerfreiheit. Dies gilt gleichermaßen
für Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwStSystRL wie auch für
Art. 132 Abs. 1 Buchst. j MwStSystRL.
|
|
|
16
|
aa) Bei Leistungen durch Unternehmer, die
keine Einrichtung öffentlichen Rechts sind, setzt Art. 132
Abs. 1 Buchst. i MwStSystRL eine Leistung durch eine andere
Einrichtung voraus, die über eine von dem betreffenden
Mitgliedstaat anerkannte vergleichbare Zielsetzung verfügt,
wie eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die mit den
Aufgaben der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, des Schul- und
Hochschulunterrichts, der Aus- und Fortbildung oder der beruflichen
Umschulung betraut ist. Bei summarischer Prüfung kann es sich
bei dem Antragsteller um eine anerkannte Einrichtung in diesem
Sinne handeln.
|
|
|
17
|
(1) Entsprechend der Beurteilung im Bereich
der Sozialfürsorge und sozialen Sicherheit nach Art. 132 Abs.
1 Buchst. g MwStSystRL ist es Sache des innerstaatlichen Rechts
jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen
Einrichtungen die erforderliche Anerkennung gewährt werden
kann. Zu berücksichtigen ist dabei das Bestehen spezifischer
Vorschriften, bei denen es sich um nationale oder regionale Rechts-
oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften
im Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann, das mit den
Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene
Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit
den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer
ähnlichen Anerkennung kommen, und die Übernahme der
Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil durch
Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen der sozialen
Sicherheit (BFH-Urteil vom 25.4.2013 V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl
II 2013, 976 = SIS 13 20 29, unter II.2.c aa, m.w.N. zur
Rechtsprechung des EuGH). Bei summarischer Prüfung ist
zumindest ernstlich zweifelhaft, ob diese zur Anerkennung im
Bereich der sozialen Sicherheit und Sozialfürsorge ergangene
Rechtsprechung nicht ebenso auf den Unterrichtsbereich zu
übertragen ist.
|
|
|
18
|
(2) Somit kann sich im Bereich des Unterrichts
nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwStSystRL die Anerkennung
insbesondere aus dem mit den Tätigkeiten des betreffenden
Steuerpflichtigen verbundenen Gemeinwohlinteresse oder auch daraus
ergeben, dass die Kosten der fraglichen Leistungen zum großen
Teil z.B. durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts
übernommen werden.
|
|
|
19
|
Beides begründet ernstliche Zweifel an
der Steuerpflicht der vom Antragsteller erbrachten Leistungen. An
seiner Tätigkeit im Rahmen des Besucherführungsdienstes
des Deutschen Bundestages besteht zum einen ein hohes
Gemeinwohlinteresse. Zum anderen wird er für seine
Tätigkeit durch die Bundesrepublik Deutschland und damit durch
eine juristische Person des öffentlichen Rechts
vergütet.
|
|
|
20
|
bb) Entgegen dem Beschluss des FG kommt auch
die Anwendung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. j MwStSystRL in Betracht.
Zwar hat der EuGH im Urteil vom 28.1.2010 C-473/08, Eulitz (Slg.
2010, I-907 = SIS 10 02 41, Rz 52) entschieden, dass diese
Bestimmung nicht die Leistungen von Lehrern erfasst, die im Rahmen
von Lehrgängen tätig sind, die von einer dritten
Einrichtung angeboten werden, da dann diese Einrichtung, nicht aber
der Lehrer „Träger der Bildungseinrichtung“
ist, an der der Lehrer Unterricht erteilt und Ausbildungsleistungen
für die Unterrichtsteilnehmer erbringt.
|
|
|
21
|
Fraglich ist aber, ob der Deutsche Bundestag
mit seinem Besucherführungsdienst als Träger einer
Bildungseinrichtung in diesem Sinne anzusehen ist. Denn zumindest
nach Auffassung der Finanzverwaltung ist „Träger
einer Bildungseinrichtung“ nur, wer selbst entgeltliche
Unterrichtsleistungen erbringt (Abschn. 4.21.2 Abs. 2 Satz 1 des
Umsatzsteuer-Anwendungserlasses). Dies trifft auf den
Besucherführungsdienst des Deutschen Bundestages, der seine
Leistungen, wie gerichtsbekannt ist, unentgeltlich in der
Öffentlichkeit anbietet, nicht zu.
|