Kindergeld, Minderung um niederländischen Unterhaltszuschuss: Der niederländische Unterhaltszuschuss nach der "REGELING TEGEMOETKOMING ONDERHOUDSKOSTEN THUISWONENDE GEHANDICAPTE KINDEREN" vom 20.12.1999 (TOG 2000) ist eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. u, i i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71. Er mindert nach der gemeinschaftsrechtlichen Kollisionsregel des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, i VO Nr. 574/72 den Anspruch auf das deutsche Kindergeld nach § 62 EStG. - Urt.; BFH 17.4.2008, III R 36/05; SIS 08 28 83
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger), ein niederländischer Staatsangehöriger,
war im Streitzeitraum als Arbeitnehmer in Deutschland tätig
und wurde nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG)
als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt. Seine Ehefrau
arbeitete in den Niederlanden, wo sich auch der Familienwohnsitz
befand.
Für die drei gemeinsamen Kinder bezog
die Ehefrau des Klägers „kinderbijslag“
(Kindergeld) nach dem „Algemene kinderbijslagwet
(AKW)“. Der Kläger erhielt Kindergeld nach dem EStG nur
in Höhe des Unterschiedsbetrags zu dem niedrigeren
„kinderbijslag“.
Für die behinderte Tochter (T) wurde
der Ehefrau des Klägers ab dem 2. Quartal 2004 zusätzlich
zu dem „kinderbijslag“ von 176,62 EUR (monatlich 58,87
EUR) ein Unterhaltszuschuss nach der „regeling tegemoetkoming
onderhouDskosten thuiswonende gehandicapte kinderen“
vom 20.12.1999 (TOG
2000) von 199,28 EUR
(monatlich 66,43
EUR) gewährt.
Durch Bescheid vom 26.5.2004 setzte die
Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) das Kindergeld
für T ab Januar 2004 unter Anrechnung des Unterhaltszuschusses
nach dem TOG 2000 auf 28 EUR fest. Auf den Einspruch des
Klägers, mit dem er sich gegen die Anrechnung des
Unterhaltszuschusses nach dem TOG 2000 wendete, änderte die
Familienkasse den Kindergeldbescheid und berücksichtigte den
Unterhaltszuschuss nach dem TOG 2000 erst von April 2004 an. Im
Übrigen wies sie den Einspruch als unbegründet
zurück. Sie führte aus, bei dem Unterhaltszuschuss nach
dem TOG 2000 handle es sich um eine Familienleistung i.S. der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 zur Anwendung
der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer,
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), die
in voller Höhe auf das Kindergeld anzurechnen sei.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage durch
Urteil vom 13.4.2005 4 K 3997/04 (EFG 2005, 1272 = SIS 05 34 15)
statt und setzte das Kindergeld für T ohne Anrechnung der
Leistungen nach dem TOG 2000 fest. Es führte im Wesentlichen
aus:
Die Leistungen nach dem TOG 2000 seien
nicht auf das deutsche Kindergeld anzurechnen, da es sich nicht um
Familienleistungen i.S. der VO Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG)
Nr. 574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die Durchführung
der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72) handle. Denn die Niederlande
hätten keine Erklärung nach Art. 5 VO Nr. 1408/71
abgegeben, dass die Rechtsvorschriften des TOG 2000 unter Art. 4
Abs. 1 VO Nr. 1408/71 fielen.
Die Familienkasse rügt mit ihrer
Revision die Verletzung von Art. 4 und 5 VO Nr. 1408/71.
Sie beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Entgegen der Auffassung des FG ist der
Unterhaltszuschuss nach dem TOG 2000 auf das Kindergeld für T
anzurechnen.
1. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen,
dass der Kläger grundsätzlich einen Anspruch auf
Kindergeld nach dem EStG hat, da er in Deutschland als
unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§
62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG).
Für Personen, die in einem Mitgliedstaat
der Europäischen Union wohnen und in einem anderen
Mitgliedstaat arbeiten, wird durch Gemeinschaftsrecht (VO Nr.
1408/71 und VO Nr. 574/72) geregelt, nach welchem Recht sich die
Ansprüche dieser Personen auf Leistungen richten, die auf
Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit
beruhen.
Nach Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a i.V.m.
Art. 4 Abs. 1 Buchst. h, Art. 73 VO Nr. 1408/71 hat ein
Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat wohnt, aber in einem
anderen Mitgliedstaat beschäftigt ist, Anspruch auf
Familienleistungen nach dem Recht des Beschäftigungslandes.
Das Kindergeld nach § 62 ff. EStG ist eine Familienleistung in
diesem Sinn (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom
8.6.2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BFH/NV 2005, Beilage 1, 33 =
SIS 04 36 31, unter A.I.2.a).
2. In welchem Umfang Leistungen eines
Mitgliedstaates der Europäischen Union, in dem der
Anspruchsberechtigte und seine Familie wohnen, für dasselbe
Kind auf das deutsche Kindergeld anzurechnen sind, richtet sich
ausschließlich nach den Kollisionsregeln des
Gemeinschaftsrechts in der VO Nr. 1408/71 und der VO Nr. 574/72.
§ 65 Abs. 2 EStG, der die Anrechnung von im Ausland
gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen regelt,
wird durch das Gemeinschaftsrecht verdrängt (Beschluss des
BVerfG in BVerfGE 110, 412, BFH/NV 2005, Beilage 1, 33 = SIS 04 36 31, unter A.I.2.a).
Besteht ein Anspruch auf Familienleistungen im
Wohnland, der nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder
selbständigen Tätigkeit abhängt, und ein Anspruch
auf Familienleistungen im Beschäftigungsland, so ruht nach
Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 der Anspruch im Wohnland bis
zur Höhe der im Beschäftigungsland geschuldeten
Leistungen. Übt die Person, die im Wohnland einen Anspruch auf
Familienleistungen hat, im Wohnland eine Berufstätigkeit aus,
ruht dagegen der Anspruch auf Familienleistungen im
Beschäftigungsland bis zur Höhe der im Wohnland
geschuldeten Leistungen (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, i VO Nr.
574/72).
Da die Ehefrau des Klägers in den
Niederlanden berufstätig war, sind die von ihr nach
niederländischem Recht bezogenen Familienleistungen nach Art.
10 Abs. 1 Buchst. b, i VO Nr. 574/72 auf das Kindergeld, das dem
Kläger nach deutschem Recht zusteht, anzurechnen.
3. Der Zuschuss nach dem TOG 2000 ist eine
Familienleistung, die nach den gemeinschaftsrechtlichen
Kollisionsregeln den Anspruch auf das deutsche Kindergeld
mindert.
a) Familienleistungen werden in Art. 1 Buchst.
u, i VO Nr. 1408/71 definiert als alle Sach- oder Geldleistungen,
die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art. 4 Abs. 1
Buchst. h VO Nr. 1408/71 genannten Rechtsvorschriften bestimmt
sind, mit Ausnahme von Geburts- oder Adoptionsbeihilfen. Nach Art.
4 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 fallen in den sachlichen Geltungsbereich
der Verordnung alle Rechtsvorschriften über Zweige der
sozialen Sicherheit, welche die in Buchst. a bis h VO Nr. 1408/71
aufgeführten Leistungsarten betreffen. Dazu gehören die
in Buchst. h aufgeführten Familienleistungen. Hiervon
abzugrenzen sind im Streitfall die in Buchst. b genannten
Leistungen bei Invalidität einschließlich der
Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der
Erwerbsfähigkeit bestimmt sind, sowie die
Sozialhilfeleistungen, die nicht von der Verordnung erfasst werden
(Art. 4 Abs. 4 VO Nr. 1408/71).
b) Nach Art. 5 VO Nr. 1408/71 haben die
Mitgliedstaaten die unter Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 fallenden
Rechtsvorschriften und Systeme in Erklärungen, die
gemäß Art. 97 notifiziert und veröffentlicht
werden, anzugeben. Liegt eine solche Erklärung - wie im
Streitfall für die Rechtsvorschriften des TOG 2000 - nicht
vor, folgt daraus entgegen der Auffassung des FG nicht, dass die
Rechtsvorschriften vom Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71
ausgeschlossen sind. Vielmehr ist nach ständiger
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften (EuGH) jeweils zu prüfen, ob die Leistungen
aufgrund dieser Rechtsvorschriften nach ihren grundlegenden
Merkmalen, insbesondere ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer
Gewährung zum sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71
gehören (z.B. Urteil des EuGH vom 15.3.2001 C-85/99,
Offermanns, Slg. 2001, I-2261, m.w.N.).
c) Der Unterhaltszuschuss nach dem TOG 2000
fällt unter die VO Nr. 1408/71, da er aufgrund von
Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit
gewährt wird, die Familienleistungen betreffen (Art. 4 Abs. 1
Buchst. h VO Nr. 1408/71).
aa) Der Unterhaltszuschuss ist keine der
Sozialhilfe i.S. des Art. 4 Abs. 4 VO Nr. 1408/71 vergleichbare
Leistung. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist eine
Leistung der sozialen Sicherheit i.S. von Art. 4 Abs. 1 VO Nr.
1408/71 und nicht der Sozialhilfe gegeben, wenn sie nicht aufgrund
einer auf die persönliche Bedürftigkeit abstellenden
Ermessensentscheidung, sondern aufgrund eines gesetzlichen
Tatbestandes gewährt wird (EuGH-Urteil in Slg. 2001, I-2261,
m.w.N.). Diese Voraussetzung erfüllt der Unterhaltszuschuss
nach dem TOG 2000. Denn die Gewährung hängt nicht von der
Bedürftigkeit der Eltern ab, sondern von objektiven, rechtlich
festgelegten Voraussetzungen, nämlich davon, ob die Eltern mit
dem Kind in den Niederlanden wohnen, ein zu Hause wohnendes
behindertes, pflegebedürftiges Kind zu versorgen haben und
keine dem Unterhaltszuschuss nach dem TOG 2000 vergleichbaren
Leistungen erhalten. Aufgrund der Behinderung muss das Kind
erheblich mehr Versorgung, Begleitung und Beaufsichtigung
benötigen als ein gleichaltriges gesundes Kind. Dies ist durch
ein Gutachten nachzuweisen, das im Auftrag der für die
Auszahlung des Unterhaltszuschusses zuständigen Behörde,
der „Sociale Verzerkeringsbank (SVB)“, durch
„ClientFirst“, eine unabhängige
Einrichtung, festzustellen ist.
bb) Unter Familienleistungen, die in Art. 1
Buchst. u, i VO Nr. 1408/71 als Sach- oder Geldleistungen zum
Ausgleich von Familienlasten definiert werden, sind nach der
ständigen Rechtsprechung des EuGH staatliche Beiträge zum
Familienbudget zu verstehen, welche die Kosten für den
Unterhalt von Kindern verringern. Dadurch soll das Familienbudget
entlastet und der Lebensstandard der Familie verbessert werden.
Familienleistungen sollen dazu dienen, Arbeitnehmer mit
Familienlasten dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die
Allgemeinheit an diesen Lasten beteiligt (EuGH-Urteile in Slg.
2001, I-2261, und vom 7.11.2002 C-333/00, Maaheimo, Slg. 2002,
I-10087, jeweils m.w.N.).
cc) Diese Voraussetzungen erfüllt der
Unterhaltszuschuss nach dem TOG 2000. Maßgebend für
dessen Bewilligung ist, in welchem Umfang das Kind im Vergleich zu
gesunden Kindern in Bezug auf die tägliche Versorgung, die
Kontinenz, das Laufen und Bewegen, Essen und Trinken, Verhalten,
die Kommunikation und die Aktivitäten im und außer Haus
pflegebedürftig ist. Infolge der Pflegebedürftigkeit des
Kindes entstehen den Eltern erhöhte Unterhaltslasten. Der
Unterhaltszuschuss dient dazu, den erhöhten Unterhaltsbedarf
auszugleichen. Er ist somit ein staatlicher Beitrag zum
Familienbudget, der die Kosten für den Unterhalt von
behinderten Kindern verringern soll. Auch aus der Bezeichnung des
Gesetzes ergibt sich, dass es sich um einen Zuschuss zu den
Unterhaltskosten („tegemoetkoming onderhouDskosten
thuiswonende gehandicapte kinderen“) handelt.
Durch den Unterhaltszuschuss wird unmittelbar die Liquidität
des Familienbudgets und somit der Lebensstandard der Familie
verbessert. Es handelt sich bei dem Zuschuss eindeutig nicht um
einen Rechtsanspruch des behinderten Kindes auf Leistungen wegen
seiner Invalidität oder zur Erhaltung und Verbesserung seiner
Erwerbsfähigkeit i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. b VO Nr.
1408/71, sondern um einen Zuschuss zu den erhöhten
Unterhaltskosten der Eltern und damit um eine Familienleistung i.S.
des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71, die nach Art. 10 Abs. 1
Buchst. b, i VO Nr. 574/72 auf das deutsche Kindergeld anzurechnen
ist.
Auch die für die Auszahlung des
Unterhaltszuschusses nach dem TOG 2000 zuständige
Behörde, die „SVB (Bureau voor Duitse
Zaken)“ hat auf Anfrage des FG bestätigt, dass die
Leistungen nach dem TOG 2000 als
„Familienleistungen“ i.S. des Art. 4 Abs. 1
Buchst. h VO Nr. 1408/71 zu beurteilen seien. Sie hat dies unter
anderem damit begründet, dass es sich um eine besondere Form
einer Familienleistung handle, weil die Regelungen des TOG 2000
weitgehend im niederländischen Kindergeldgesetz (AKW)
verankert seien.
4. Die Einholung einer Vorabscheidung des EuGH
nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft in der nach dem 1.5.1999 geltenden
Fassung zur Auslegung des Begriffs
„Familienleistung“ ist nicht erforderlich. Zu
dem Begriff „Familienleistung“ besteht bereits
eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH. Es bestehen keine
vernünftigen Zweifel daran, dass der Unterhaltszuschuss die
vom EuGH vorgegebenen Kriterien erfüllt.