Die Beschwerde ist begründet.
Der Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 02.10.2020
- 5 K 5093/20 wird aufgehoben und die Sache an das Finanzgericht
Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
1
|
I. Der Kläger und
Beschwerdeführer (Kläger) hat Klage gegen die
Gewerbesteuermessbescheide für die Jahre 2013 bis 2015 vor dem
Finanzgericht (FG) erhoben. Mit Schreiben vom 19.08.2020 beantragte
sein Prozessbevollmächtigter die Vorlage der in Papier
geführten Verwaltungsakten, Betriebsprüfungsakten,
Rechtsbehelfsakten und Handakten „in einer gängigen elektronischen
Form“ in entsprechender Anwendung des Art. 15 Abs. 3 Satz 3
der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 27.04.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei
der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr
und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG
(Datenschutz-Grundverordnung) - DSGVO - (Amtsblatt der
Europäischen Union 2016, Nr. L 119, 1).
|
|
|
2
|
Der Vorsitzende des FG lehnte den Antrag
des Klägers, die dem Gericht vorgelegten Akten des Beklagten
und Beschwerdegegners (Finanzamt) in elektronischer Form zur
Einsicht zur Verfügung zu stellen, mit Beschluss vom
02.10.2020 ab. Zur Begründung führte er aus, dass §
78 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur dann Anwendung finde,
wenn die Akten elektronisch geführt werden. Dies sei
vorliegend nicht der Fall. Würden die Prozessakten in
Papierform geführt, so werde die Akteneinsicht nach § 78
Abs. 3 Satz 1 FGO durch Einsichtnahme in die Akten in den
Diensträumen gewährt. Die Akteneinsicht könne nach
§ 78 Abs. 3 Satz 2 FGO, soweit nicht wichtige Gründe
entgegenstehen würden, auch durch Bereitstellung des Inhalts
der Akten zum Abruf gewährt werden. Dies sei vorliegend nicht
der Fall, da die technische Möglichkeit eines Abrufs von Daten
beim FG Berlin-Brandenburg nicht existiere. Eine anderweitige Form
der elektronischen Zurverfügungstellung des Inhalts der in
Papierform geführten Akten sehe § 78 Abs. 3 FGO nicht
vor. So enthalte die Regelung insbesondere keine dem § 78 Abs.
2 Satz 3 FGO entsprechende Möglichkeit der Übermittlung
eines Datenträgers. Wollte man diese Regelung für in
Papierform geführte Akten entsprechend anwenden, so
stünde die Übermittlung des Datenträgers im Ermessen
des Vorsitzenden. Angesichts des Umfangs der Papierakten im
vorliegenden Verfahren komme eine Digitalisierung durch Einscannen
nicht in Betracht. Ohne Erfolg berufe sich der Kläger auf Art.
15 DSGVO, da diese Vorschrift keine Verpflichtung vorsehe, in
Papierform geführte Akten zum Zwecke der Einsichtnahme zu
digitalisieren. In der Rechtsmittelbelehrung hat das FG darauf
hingewiesen, dass der Beschluss nach § 78 Abs. 2 Satz 5
Halbsatz 2 FGO unanfechtbar sei.
|
|
|
3
|
Der Kläger legte gegen den Beschluss
Beschwerde ein, die am 19.10.2020 beim FG einging. Er beruft sich
hinsichtlich des Beschwerderechts auf Art. 79 Abs. 1 DSGVO. Sein
Anspruch auf Akteneinsicht in elektronischer Form ergebe sich aus
Art. 15 Abs. 3 Satz 3 DSGVO.
|
|
|
4
|
Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen
und sie dem Bundesfinanzhof (BFH) zur Entscheidung
vorgelegt.
|
|
|
5
|
II. Die statthafte Beschwerde ist
begründet.
|
|
|
6
|
1. Die Beschwerde ist statthaft.
|
|
|
7
|
a) Die Entscheidung über die Art und Weise der
Akteneinsicht stellt keine prozessleitende Verfügung i.S. des
§ 128 Abs. 2 FGO dar, so dass eine Beschwerde nicht
ausgeschlossen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B.
BFH-Beschluss vom 05.02.2003 - V B 239/02, BFH/NV 2003, 800 = SIS 03 24 44).
|
|
|
8
|
b) Entgegen der Auffassung des FG liegt auch
kein Fall des § 78 Abs. 2 Satz 5 Halbsatz 2 FGO vor. Nach
dieser Regelung ist die Entscheidung über einen Antrag nach
§ 78 Abs. 2 Satz 3 FGO auf Übermittlung eines
Aktenausdrucks oder eines Datenträgers mit dem Inhalt der
Akten unanfechtbar. Vorliegend hat der Kläger seinen Antrag
auf Akteneinsicht jedoch nicht auf § 78 Abs. 2 Satz 3 FGO
gestützt, sondern auf Art. 15 DSGVO. Zudem konnte er auch
keinen Antrag nach § 78 Abs. 2 Satz 3 FGO stellen, da die
Prozessakten nicht in elektronischer Form, sondern in Papierform
geführt wurden. Form und Ort der Akteneinsicht und somit auch
die Ausgestaltung des Antragsrechts werden - was das FG
unberücksichtigt gelassen hat - durch § 78 Abs. 2 und
Abs. 3 FGO in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung
ausdrücklich danach geregelt, ob die Prozessakten elektronisch
oder in Papierform geführt werden (BFH-Beschluss vom
06.09.2019 - III B 38/19, BFH/NV 2020, 91 = SIS 19 18 97, Rz 8).
Danach findet der Ausschluss der Beschwerde nach § 78 Abs. 2
Satz 5 Halbsatz 2 FGO keine Anwendung, wenn der Antrag auf
Akteneinsicht sich auf Prozessakten bezieht, die - wie im
vorliegenden Fall - in Papierform geführt werden.
|
|
|
9
|
2. Die Beschwerde des Klägers ist
begründet. Das FG war nicht vorschriftsmäßig
besetzt. Die Entscheidung des FG leidet deshalb an einem i.S. des
§ 119 Nr. 1 FGO wesentlichen Verfahrensmangel (Rüsken in
Gosch, FGO § 132 Rz 25; vgl. BFH-Beschluss vom 06.11.2006 - II
B 45/05, BFH/NV 2007, 466 = SIS 07 07 11), der zur Aufhebung des
angefochtenen FG-Beschlusses und zur Zurückverweisung der
Sache an das FG führt.
|
|
|
10
|
Das FG hat über den Antrag des
Klägers, ihm die in Papierform geführten Prozessakten in
elektronischer Form zur Verfügung zu stellen,
verfahrensfehlerhaft durch den Vorsitzenden und nicht nach § 5
Abs. 3 Satz 2 FGO durch den Senat des FG in der Besetzung mit drei
Richtern entschieden. Danach war das erkennende Gericht nicht
vorschriftsmäßig besetzt, so dass der Beschluss formell
rechtswidrig ist.
|
|
|
11
|
a) Über die Art und Weise der
Akteneinsicht hat der Senat und nicht der Vorsitzende Richter des
FG zu entscheiden, soweit nicht der ab dem 01.01.2018 gesetzlich
geregelte Sonderfall des § 78 Abs. 2 Satz 5 Halbsatz 1 FGO
für elektronisch geführte Akten vorliegt.
|
|
|
12
|
aa) Die Zuständigkeit für die
Entscheidung über die Ablehnung der beantragten Akteneinsicht
ist - bis auf die seit dem 01.01.2018 eingeführte Regelung des
§ 78 Abs. 2 Satz 5
Halbsatz 1 und Satz 6 FGO in Bezug auf die elektronisch
geführte Prozessakte - gesetzlich nicht geregelt.
Entscheidungen über die Akteneinsicht können danach -
soweit nicht am FG gemäß § 6 FGO der Einzelrichter
oder bei der elektronischen Akteneinsicht der Vorsitzende nach
§ 78 Abs. 2 Satz 5
Halbsatz 1 FGO oder der Berichterstatter nach Satz 6 der
Vorschrift zuständig ist - nach § 5 Abs. 3 FGO nur von
dem Senat getroffen werden. An der Entscheidung über die
Ablehnung der Akteneinsicht wirken danach drei Berufsrichter mit
(§ 5 Abs. 3 Satz 2 FGO).
|
|
|
13
|
bb) Die Rechtsprechung des BFH, nach der dem
(Senats-)Vorsitzenden grundsätzlich eine Ablehnungsbefugnis
hinsichtlich der Art und Weise der Akteneinsicht zusteht (s. z.B.
BFH-Beschlüsse vom 03.12.1974 - VII B 88/74, BFHE 114, 173,
BStBl II 1975, 235 = SIS 75 01 37; vom 23.09.1985 - VI B 11/85,
BFH/NV 1987, 374; vom 25.05.2004 - IV B 110/02, juris; diese
Rechtsprechung als nicht abschließend geklärt in Frage
stellend BFH-Beschluss vom 05.05.2017 - X B 36/17, BFH/NV 2017,
1183 = SIS 17 14 14), ist jedenfalls seit der Einführung des
§ 78 Abs. 2 Satz 5
Halbsatz 1, Satz 6 FGO durch Art. 22 Nr. 8 Buchst. b des
Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz
und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs
vom 05.07.2017 (BGBl I 2017, 2208) zum 01.01.2018 überholt.
Wäre der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass der Vorsitzende
des Senats stets - d.h. sowohl bei den in Papier und bei den
elektronisch geführten Prozessakten - über die Art und
Weise der Akteneinsicht entscheiden kann, hätte es der neu
eingeführten Regelung des § 78 Abs. 2 Satz 5 Halbsatz 1
und Satz 6 FGO für die elektronisch geführten
Prozessakten nicht bedurft. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass
eine solche Zuständigkeit des Vorsitzenden nur nach § 78
Abs. 2 Satz 5 FGO für die elektronisch geführten
Prozessakten besteht, mangels einer entsprechenden Regelung in
§ 78 Abs. 3 FGO jedoch nicht für die in Papierform
geführten Prozessakten, so dass es an einer gesetzlichen
Grundlage für die Befugnis des Vorsitzenden zur Entscheidung
über die Art und Weise der Akteneinsicht bei den in Papierform
geführten Prozessakten fehlt (so auch Thürmer in
Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 78 FGO Rz 137; Stalbold in
Gosch, FGO § 78 Rz 56; kritisch auch Brandis in Tipke/Kruse,
§ 78 FGO Rz 20; Fu in Schwarz/Pahlke, FGO, § 78 Rz 76
ff.; wohl auch Bartone in: Kühn/v. Wedelstädt, 22. Aufl.,
FGO, § 78 Rz 6; anderer Ansicht Gräber/Stapperfend,
Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 78 Rz 27;
Gräber/Ratschow, a.a.O., § 128 Rz 5).
|
|
|
14
|
cc) Eine solche Befugnis ergibt sich auch
nicht aus einer anderen Verfahrensvorschrift. Bei der Entscheidung
über die Art und Weise der Akteneinsicht handelt es sich nicht
um eine prozessleitende Verfügung i.S. des § 128 Abs. 2
FGO (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss in
BFH/NV 2003, 800 = SIS 03 24 44). Danach ergibt sich eine
Entscheidungsbefugnis des Senatsvorsitzenden auch nicht aus §
79 Abs. 1 FGO, da diese Vorschrift nur in bestimmten Fällen
zum Erlass von unanfechtbaren prozessleitenden Verfügungen
ermächtigt. Es handelt sich auch nicht um eine Entscheidung,
die von dem Vorsitzenden im vorbereitenden Verfahren nach §
79a FGO getroffen werden kann.
|
|
|
15
|
b) Danach hätte im vorliegenden Fall der
Senat des FG über die Ablehnung der beantragten Akteneinsicht
in die in Papierform geführten Prozessakten in einer
„gängigen elektronischen Form“ entscheiden
müssen, so dass der Beschluss formell rechtswidrig und
aufzuheben ist. Der Senat entscheidet nicht selbst über den
Antrag des Klägers, sondern verweist die Sache an das FG
zurück. Eine Zurückverweisung ist auch im
Beschwerdeverfahren zulässig (BFH-Beschluss vom 23.07.2002 - X
B 209/01, BFH/NV 2002, 1487 = SIS 02 98 42).
|
|
|
16
|
c) Für die Entscheidung im zweiten
Rechtsgang, die von dem Senat des FG zu treffen ist, wird darauf
hingewiesen, dass der Kläger den geltend gemachten Anspruch
auf Akteneinsicht der in Papier geführten Prozessakten in
einer „gängigen elektronischen Form“ weder
aus Art. 15 Abs. 3 Satz 3 DSGVO herleiten kann (s. BFH-Beschluss
vom 29.08.2019 - X S 6/19, BFH/NV 2020, 25 = SIS 19 18 08), noch
eine Pflicht des FG besteht, Behördenakten zu digitalisieren
(BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 91 = SIS 19 18 97; Senatsbeschluss
vom 04.07.2019 - VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235 = SIS 19 13 94).
|