Die Beschwerde des Klägers gegen den
Beschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 27.05.2020
- 5 K 81/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der
Kläger zu tragen.
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I. Zusammen mit seiner Klage gegen den - im
Schätzungswege ergangenen - Umsatzsteuerbescheid 2017
beantragte der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger),
Einsicht in die Verwaltungsakten durch Übersendung in seine
Kanzleiräume zu gewähren. Dies sei wegen der
Corona-Epidemie geboten.
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Das Finanzgericht (FG) verwies den
Kläger am 04.05.2020 auf die hilfsweise beantragte
Akteneinsicht in der Geschäftsstelle des FG und lehnte den
Antrag des Klägers auf Akteneinsicht mittels Übersendung
der Akten in dessen Kanzleiräume durch Beschluss vom
27.05.2020 - 5 K 81/20 ab. Auch im derzeitigen Stadium der
Covid-19-Pandemie entspreche es pflichtgemäßem Ermessen,
dem Kläger die den Streitfall betreffenden Akten nur in den
Diensträumen des FG zur Verfügung zu stellen.
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Nach § 78 Abs. 3 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) liege es im Ermessen des Gerichts, in
eng begrenzten Ausnahmefällen Einsicht in die in Papierform
geführten Akten in den Geschäftsräumen des
Prozessbevollmächtigten zu gewähren. Dabei seien die
gegen eine Aktenversendung sprechenden Umstände gegen die vom
Antragsteller vorgetragenen, eine Ausnahme rechtfertigenden
Umstände abzuwägen. Wann ein solcher Ausnahmefall
vorliege, hänge von den konkreten Umständen des
Einzelfalls ab (Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom
04.07.2019 - VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235 = SIS 19 13 94).
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Nach den Umständen des Streitfalls sei
es ermessensgerecht, dem Kläger die den Streitfall
betreffenden Akten nur zur Einsichtnahme im FG zur Verfügung
zu stellen:
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Das FG verfüge über ein
umfassendes Hygienekonzept, um die Gesundheit von Besuchern und
Gerichtsangehörigen zu schützen. Dieses Konzept umfasse
die Verpflichtung von Besuchern, innerhalb von Justizgebäuden
einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, die Bereitstellung von
Desinfektionsmitteln am Eingang, ein
Einbahnstraßen-Wegesystem, getrennte Ein- und Ausgänge,
die regelmäßige Desinfektion von Räumen und Tischen
sowie die Nutzung großer, regelmäßig
belüfteter Räume oder Säle für die
Durchführung einer Akteneinsicht unter Aufsicht des
Urkundsbeamten. Der Kläger habe weder dargetan, dass in seiner
Kanzlei bessere hygienische Schutzbedingungen herrschten, noch dass
er einer besonderen Risikogruppe angehöre.
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Hinzu komme, dass die Kanzlei des
Klägers weniger als 10 km vom Sitz des FG entfernt sei und
sich unter dem Gerichtsgebäude ein öffentliches Parkhaus
befinde. Der in unmittelbarer Nähe des FG gelegene
Hauptbahnhof sei von der Kanzlei des Klägers aus ohne
Umsteigen in unter 20 Minuten zu erreichen.
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Die Sorge des Klägers wegen eines mit
der Akteneinsicht im FG verbundenen Infektionsrisikos und die
weiteren von ihm mitgeteilten Umstände seien nicht geeignet,
eine Ausnahme vom Regelfall der Durchführung der Akteneinsicht
in den Diensträumen des FG zu begründen. Die gegen eine
Aktenversendung sprechenden Gründe (Gefahr von Aktenverlusten,
Gefahr der Verletzung des Steuergeheimnisses, Einschränkung
der Verfügbarkeit der Akten für die Bearbeitung im
Gericht und die Gefahr von Aktenbeschädigungen oder
-manipulationen) würden schwerer wiegen. Auch die
persönliche Zuverlässigkeit des Klägers als
Rechtsanwalt oder eine etwa abweichende Praxis anderer
Gerichtszweige führten zu keinem anderen Ergebnis. Daneben
bleibe es dem Kläger unbenommen, die Akteneinsicht erst in
einigen Monaten durchzuführen. Mit der hiergegen - vom FG
nicht abgeholfenen - fristgerecht erhobenen Beschwerde rügt
der Kläger, die vom FG dargelegten Vorgaben zur
Aktenversendung seien veraltet und entsprächen nicht mehr dem
Grundgesetz.
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Als Rechtsanwalt sei er ein Organ der
Rechtspflege und Rechtsanwälte erhielten richtiger- und
üblicherweise die Akten von Gerichten und Staatsanwaltschaften
zugesandt.
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Das Recht auf Akteneinsicht ergebe sich
nach einer Entscheidung des FG Saarland vom 03.04.2019 - 2 K
1002/16 (EFG 2019, 1217 = SIS 19 09 27) aus Art. 15 Abs. 1 und Abs.
2 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 27.04.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei
der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr
und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG
(Datenschutz-Grundverordnung - DSGVO - ).
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Vorliegend sei auch die Corona-Pandemie zu
berücksichtigen. Er, der Kläger, gehöre zu den
besonders schutzbedürftigen Personen, da er Asthma habe, eine
Erkrankung zu seiner Existenzgefährdung führe und seine
Ehefrau sowie die beiden Kinder ebenfalls gefährdet
wären. Nach den Empfehlungen der Bundesregierung und des
Robert-Koch-Institutes sollten soziale Kontakte und Reisen
möglichst vermieden werden.
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Bei einer Akteneinsicht am FG sei es so,
dass man unter Aufsicht in fremden Räumlichkeiten Einsicht
nehmen könne. Man befinde sich nicht in seinen gewohnten
Arbeitsräumen; zudem müsse man sich einmalig entscheiden,
welche Seiten zu kopieren seien und welche nicht. Dieser Zustand
sei rechts- und verfassungswidrig.
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II. Die Beschwerde ist zulässig, hat aber
keinen Erfolg und ist daher durch Beschluss zurückzuweisen
(§ 132 FGO).
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1. Die Beschwerde ist zulässig. Die
Entscheidung über die Art und Weise der Gewährung von
Akteneinsicht ist nach § 128 Abs. 1 FGO beschwerdefähig;
sie stellt keine unanfechtbare prozessleitende Verfügung i.S.
von Abs. 2 der Vorschrift dar (Senatsbeschluss vom 05.02.2003 - V B
239/02, BFH/NV 2003, 800 = SIS 03 24 44; BFH-Beschluss vom
27.03.2014 - II B 68/13, BFH/NV 2014, 1072 = SIS 14 15 99, Rz 2,
m.w.N.).
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2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.
Die angefochtene Entscheidung des FG, dem Kläger keine
Akteneinsicht in seinen Kanzleiräumen zu gewähren, ist
nicht zu beanstanden.
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a) Nach § 78 Abs. 1 Sätze 1 und 2
FGO in seiner ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8,
Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen
Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des
elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017, BGBl I 2017, 2208)
können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht
vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle
auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und
Abschriften erteilen lassen. Die Akteneinsicht wird, wenn die
Prozessakten - wie vorliegend - in Papierform geführt werden,
durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt
(§ 78 Abs. 3 Satz 1 FGO).
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Diensträume in diesem Sinne sind nicht
nur die Diensträume des Gerichts, sondern Räumlichkeiten,
die vorübergehend oder dauernd dem öffentlichen Dienst
zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und
über die ein Träger öffentlicher Gewalt das
Hausrecht ausübt. Die Kanzleiräume des Klägers sind
- trotz dessen Stellung als unabhängiges Organ der
Rechtspflege (§ 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung) - hingegen
keine Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 FGO
(BFH-Beschlüsse vom 13.06.2020 - VIII B 149/19, BFH/NV 2020,
1268 = SIS 20 14 83, und in BFH/NV 2019, 1235 = SIS 19 13 94). Im
Hinblick darauf, dass andere Prozessordnungen die
grundsätzliche Möglichkeit eröffnen, neben einer
Einsichtnahme in Diensträumen auch die Akten zur Einsicht in
die Wohnung oder Geschäftsräume des
Prozessbevollmächtigten zu übersenden (vgl. § 100
Abs. 3 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - ; § 120
Abs. 3 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes; § 32f Abs. 2 Satz 3
der Strafprozessordnung - StPO - ), ist es als bewusste
Entscheidung des Gesetzgebers zu werten, diese Weiterung für
das finanzgerichtliche Verfahren gerade nicht zu übernehmen
(BFH-Beschluss in BFH/NV 2019, 1235 = SIS 19 13 94, Rz 10 ff.,
m.w.N.).
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b) Entgegen der Auffassung des Klägers
liegt auch kein Ausnahmefall vor, nach dem die Akteneinsicht in
dessen Kanzleiräumen zu gewähren wäre.
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aa) Die Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1
FGO schließt nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von
Diensträumen aus. Vielmehr bleibt die Übersendung von
Akten in die Geschäftsräume eines
Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme
nach wie vor möglich. Sie ist allerdings nicht der Regelfall,
sondern bleibt auf eng begrenzte Ausnahmefälle
beschränkt. Die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch
außerhalb von Diensträumen zu gewähren, ist eine
nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilende
Ermessensentscheidung. Dabei sind die für und gegen eine
Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander
abzuwägen, d.h. das dienstliche Interesse an einem geordneten
Geschäftsgang einerseits (beispielsweise Gefahr von
Aktenverlusten bzw. -beschädigungen oder gar -manipulationen,
Schutz von potenziellen Beweismitteln [wie z.B.
Steuererklärungen mit Originalbelegen], jederzeitige
Verfügbarkeit der Akten sowie Wahrung des Steuergeheimnisses
gegenüber Dritten) mit dem Interesse an der Ersparnis von Zeit
und Kosten im Falle der Gewährung der Akteneinsicht
außerhalb von Diensträumen andererseits. Im Rahmen
dieses Abwägungsprozesses ist der vom Gesetzgeber in § 78
Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen und hierbei insbesondere das
Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen einer Akteneinsicht in und
außerhalb von Diensträumen zu beachten.
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bb) Nach den dargelegten Maßstäben
ist der Beschluss des FG, mit dem es die Aktenübersendung in
die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten abgelehnt
hat, nicht zu beanstanden. Das FG hat die gegen eine Akteneinsicht
in den Kanzleiräumen sprechenden Gründe in seiner
Entscheidung auf S. 3 unter II.2. berücksichtigt und gegen die
vom Kläger vorgebrachten Einwendungen abgewogen. Dabei konnte
es ohne Ermessensfehler davon ausgehen, dass die gegen eine
Aktenübersendung in die Geschäftsräume des
Bevollmächtigten sprechenden Gründe trotz des vom
Kläger geltend gemachten gesundheitlichen Risikos einer
Akteneinsicht beim FG schwerer wiegen. Das FG hat insoweit zu Recht
auf ein ausgefeiltes Hygienekonzept verwiesen, das die
gesundheitlichen Risiken - jedenfalls unter Beachtung der
getroffenen Schutzmaßnahmen - weitestgehend
ausschließt, sodass sich die Entscheidung des FG auch unter
Berücksichtigung der besonderen Pandemielage als
ermessensfehlerfrei erweist. Soweit der Kläger behauptet, er
leide unter Asthma und gehöre zu einer besonderen
Risikogruppe, hat er dieses Vorbringen weder substantiiert noch
durch ein ärztliches Attest glaubhaft gemacht.
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cc) Im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens gegen
eine vom FG getroffene, die Akteneinsicht außerhalb von
Diensträumen ablehnende Entscheidung ist der BFH zwar nicht
auf eine Überprüfung der Ermessensentscheidung des FG
beschränkt, sodass der BFH als Beschwerdegericht selbst
Tatsachengericht und somit gehalten ist, eigenes Ermessen
auszuüben (BFH-Beschluss vom 28.11.2019 - X B 132/19, BFH/NV
2020, 377 = SIS 20 01 73, Rz 18). Die vom Kläger in seiner
Beschwerdebegründung angeführten Argumente sind jedoch
nicht geeignet, einen Ausnahmefall zu begründen:
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(1) Der Hinweis des Klägers auf seine
Funktion als Organ der Rechtspflege sowie darauf, dass
Rechtsanwälten in anderen Verfahren üblicherweise die
Akten zugesandt werden, begründet keinen Anspruch auf
Zusendung der Verfahrensakten im FG-Prozess. Denn § 78 FGO
sieht insoweit keine Ausnahme für Rechtsanwälte als Organ
der Rechtspflege vor. Aus der unterschiedlichen Fassung des
Akteneinsichtsrechts z.B. in § 100 Abs. 3 Satz 3 VwGO sowie in
§ 147 Abs. 4 StPO folgt, dass für den Steuerprozess
andere Maßstäbe gelten. Wie sich aus den Motiven zu
§ 78 FGO ergibt, wonach eine Bevorzugung der
Rechtsanwälte gegenüber den anderen als
Bevollmächtigte im Steuerprozess in Betracht kommenden
Berufsträgern ausgeschlossen werden sollte (BT-Drucks.
IV/1446, S. 53), beruhen die unterschiedlichen Fassungen des
Akteneinsichtsrechts in den verschiedenen Verfahrensordnungen auf
einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers, an die das Gericht
gebunden ist (Senatsbeschluss vom 31.10.2008 - V B 29/08, BFH/NV
2009, 194 = SIS 09 02 83, Rz 7).
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Entgegen der Ansicht des Klägers bestehen
gegen diese Regelung und der darauf beruhenden Rechtsprechung keine
verfassungsrechtlichen Bedenken (Beschlüsse des
Bundesverfassungsgerichts vom 26.08.1981 - 2 BvR 637/81, HFR 1982,
77; vom 11.07.1984 - 1 BvR 1532/83, Die Information über
Steuer und Wirtschaft 1984, 478).
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(2) Ohne Erfolg beruft sich der Kläger
zur Begründung eines Ausnahmefalls auf die Entscheidung des FG
Saarland in EFG 2019, 1217 = SIS 19 09 27 zu Art. 15 Abs. 1 und
Abs. 2 DSGVO. Dieser Beschluss betrifft einen zugunsten aller
Steuerpflichtigen bestehenden Anspruch auf Akteneinsicht bei der
Finanzbehörde. Abgesehen davon, dass es im Streitfall nicht um
die Akteneinsicht bei der Finanzbehörde, sondern beim FG geht,
hat der BFH im Beschluss vom 29.08.2019 - X S 6/19 (BFH/NV 2020, 25
= SIS 19 18 08) entschieden, dass in finanzgerichtlichen Verfahren
keine über § 78 FGO hinausgehenden Rechte nach Art. 15
DSGVO hergeleitet werden können.
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(3) Die Ausführungen des Klägers zu
den ungünstigeren Rahmenbedingungen für eine
ungestörte Akteneinsicht (Aufsicht, fremde
Räumlichkeiten, Entscheidung über Kopien) sind nach
ständiger Rechtsprechung nicht geeignet, einen Ausnahmefall zu
begründen (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2019, 1235 = SIS 19 13 94, Rz 19; in BFH/NV 2020, 377 = SIS 20 01 73, Rz 16,
und vom 09.03.1993 - VII B 214/92,
BFH/NV 1993, 743). Insbesondere hat
ein Prozessbevollmächtigter auch als Berufsträger keinen
Anspruch darauf, dass eine Akteneinsicht in Diensträumen ohne
Beisein einer/eines dortigen Bediensteten stattfindet
(BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 377 = SIS 20 01 73, Rz 23, 25).
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3. Von einer weiteren Begründung wird
gemäß § 113 Abs. 2 Satz 3 FGO unter Hinweis auf die
zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses
abgesehen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO.
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