Änderung von älteren Folgebescheiden, Beweislast: Das FA kann aufgrund der Feststellungslast die Änderung eines Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht mit der Begründung ablehnen, es bestünden wegen Fehlens der Steuerakten Unklarheiten über die im ursprünglichen Folgebescheid angesetzten Besteuerungsgrundlagen, wenn die Ursachen für die Unklarheiten der Finanzverwaltung zuzurechnen sind. - Urt.; BFH 28.11.2007, X R 11/07; SIS 08 11 99
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) war an der Firma A-KG (KG) beteiligt, die ein
größeres Bauvorhaben begonnen hatte. Durch
Gewinnfeststellungsbescheide 1975 des für die KG
zuständigen Finanzamts vom 17.7.1984/30.4.1986/30.3.1988 wurde
für den Kläger ein Veräußerungsgewinn in
Höhe von 40.974,53 DM festgestellt. Nach mehrjährigen
Rechtsstreitigkeiten, die ein anderer Kommanditist der KG
geführt hatte, wurde der Gewinnfeststellungsbescheid 1975
geändert. Die Einkünfte des Klägers aus seiner
Beteiligung an der KG wurden auf 0 DM festgestellt.
Da weder beim Kläger noch beim
Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA - ) Unterlagen zur
Einkommensteuer 1975 vorhanden waren, beantragte der Kläger,
in einem geänderten Einkommensteuerbescheid 1975 den
ursprünglich festgestellten Veräußerungsgewinn in
Höhe von 40.974,53 DM von einem geschätzten zu
versteuernden Einkommen des Jahres 1975 in Höhe von 150.000 DM
abzuziehen. Diesen Antrag lehnte das FA mit der Begründung ab,
nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen für die Steuerakten liege
die Beweislast für die Besteuerungsgrundlagen des Jahres 1975
beim Kläger. Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen in
Anlehnung an die angrenzenden Veranlagungszeiträume sei nicht
möglich.
Das Finanzgericht (FG) hat die nach
erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage mit in EFG 2007,
1481 = SIS 07 26 14 veröffentlichtem Urteil abgewiesen. Zwar
sei nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) ein
Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid
(§ 171 Abs. 10 AO), dem Bindungswirkung für diesen
Steuerbescheid zukomme, geändert werde. Dies gelte jedoch nur
für den Fall, dass der bisherige Folgebescheid eine andere
Regelung enthalte als der neue Grundlagenbescheid. Ein
Grundlagenbescheid, der den Regelungsinhalt des Folgebescheids
unberührt lasse, löse keine Anpassungspflicht nach §
175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO aus (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH -
vom 13.12.2000 X R 42/96, BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471 = SIS 01 10 39). Das für die KG zuständige FA habe zwar den
Grundlagenbescheid hinsichtlich der Beteiligung des Klägers an
der KG geändert. Der Kläger könne jedoch nicht
nachweisen, dass dies auch zu einer Änderung des
Einkommensteuerbescheids 1975 führen müsse.
Eine gesetzlich festgelegte Regel über
die Verteilung der Feststellungslast fehle für den
Steuerprozess. Nach der Rechtsprechung des BFH trage jedoch der
Steuerpflichtige die Feststellungslast für die Tatsachen, die
Steuerbefreiungen und -ermäßigungen begründen oder
einen Steueranspruch aufheben oder einschränken (Urteil vom
7.7.1983 VII R 43/80, BFHE 138, 527, BStBl II 1983, 760 = SIS 83 18 44). Diese Regel gelte nicht nur für
Steuerermäßigungen, sondern für alle Tatsachen, die
einen Steueranspruch einschränkten. Damit trage der
Kläger die Feststellungslast dafür, dass der bisherige
Ansatz der Einkünfte aus seiner KG-Beteiligung im Rahmen der
Einkommensteuerveranlagung 1975 unzutreffend sei. Diesen Nachweis
habe der Kläger nicht erbracht. Es könne nicht
festgestellt werden, dass im ursprünglichen
Einkommensteuerbescheid 1975 andere Einkünfte aus der
KG-Beteiligung angesetzt worden seien als nun durch den
geänderten Gewinnfeststellungsbescheid verbindlich
vorgeschrieben. Auch würden Angaben über die bisherige
Höhe der Einkommensteuerfestsetzung fehlen.
Der Kläger könne nicht geltend
machen, dass das FA die Steuerakten des Streitjahres hätte
aufbewahren müssen. Nach dem Inhalt der dem Gericht
vorliegenden Steuerakten ergebe sich kein Hinweis auf ein
finanzgerichtliches Verfahren gegen den Gewinnfeststellungsbescheid
1975.
Mit der Revision rügt der Kläger
die Verletzung von Verfahrensvorschriften. § 175 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 AO beinhalte eine absolute Anpassungsverpflichtung, die
allein dem FA obliege. Die geänderte Besteuerungsgrundlage aus
der KG-Beteiligung des Klägers sei bekannt. Die unbekannten
anderen Besteuerungsgrundlagen seien zu schätzen. Soweit das
FA bestreite, den Veräußerungsgewinn in Höhe von
40.974,53 DM der Besteuerung 1975 zugrunde gelegt zu haben, treffe
es die Feststellungslast. Zu berücksichtigen sei obendrein,
dass ein Verschulden für die Vernichtung der Akten
ausschließlich die Finanzverwaltung treffe. Hätte das
Betriebsstätten-FA den Kläger zum Verfahren hinzugezogen,
hätte dieser nicht seine Akten vernichtet. Hätte das
Betriebsstätten-FA das Wohnsitz-FA pflichtgemäß
über den Prozess unterrichtet, hätte auch dieses seine
Unterlagen nicht vernichtet.
Der Kläger beantragt, das FG-Urteil
aufzuheben und das Verfahren an das FG zurückzuverweisen bzw.
die Einkommensteuer um 10.244 DM herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Zu Unrecht hat
dieses erkannt, dass die Einkommensteuerfestsetzung des
Klägers für das Kalenderjahr 1975 nicht zu ändern
ist.
1. Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein
Grundlagenbescheid i.S. von § 171 Abs. 10 AO, dem
Bindungswirkung für diesen Bescheid zukommt, erlassen,
aufgehoben oder geändert wird.
Diese Bindungswirkung beinhaltet, dass das
für den Erlass eines Folgebescheids zuständige FA
verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu
ziehen (vgl. z.B. Senatsurteil vom 28.11.2001 X R 23/97, BFH/NV
2002, 614 = SIS 02 62 04). § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO
begründet eine „absolute
Anpassungsverpflichtung“ (Pahlke/Koenig, Abgabenordnung
§ 175 Rz 22). Die Vorschrift stellt die Anpassung des
Folgebescheids mithin nicht in das Ermessen der
Finanzbehörden. Sie bezweckt die Ermittlung und Festsetzung
der zutreffenden Steuer, wobei sie der materiellen Richtigkeit des
Folgebescheids den Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits
ergangenen Folgebescheids einräumt (Senatsurteil vom 16.7.2003
X R 37/99, BFHE 203, 14, BStBl II 2003, 867 = SIS 03 46 52).
2. Tatbestandsmäßige Voraussetzung
für eine Korrektur nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist,
dass ein Grundlagenbescheid mit Bindungswirkung für den
Folgebescheid erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Dies
bedeutet: Im Umfang der in § 182 Abs. 1 AO festgelegten
Bindungswirkung (dies ergibt sich aus der Formulierung
„soweit ...“ in beiden Vorschriften) muss es
entweder zu einer erstmaligen Regelung oder zu einer inhaltlichen
Veränderung des bisherigen Regelungszustandes kommen
(Senatsurteil in BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471 = SIS 01 10 39).
3. Im Streitfall liegen die Voraussetzungen
für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung des
Klägers nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO vor.
a) Zwischen den Beteiligten unstreitig wurde
für den Kläger in den Gewinnfeststellungsbescheiden 1975
vom 17.7.1984/ 30.4.1986 bzw. 30.3.1988 ein
Veräußerungsgewinn in Höhe von 40.974,53 DM
festgestellt. Im Feststellungsbescheid vom 23.12.2002 wurden
hingegen die Einkünfte des Klägers aus seiner
KG-Beteiligung für das Kalenderjahr 1975 mit 0 DM
angesetzt.
b) Der Umstand, dass wegen der Vernichtung der
Steuerakten des Klägers nicht geklärt werden kann, ob die
ursprünglichen Gewinnfeststellungsbescheide 1975, mit denen
ein Veräußerungsgewinn des Klägers festgestellt
wurde, vom FA ausgewertet wurden, kann nicht zu Lasten des
Klägers gehen. Das FG hat insoweit die Verteilung der
Beweislast verkannt.
aa) Nachdem das FG die Auswertung der
ursprünglichen Gewinnfeststellungsbescheide 1975 als nicht
erwiesen erachtet hat und es insoweit von einer nicht behebbaren
Ungewissheit („non liquet“) ausgegangen ist, hat
es seine Entscheidung zu Recht davon abhängig gemacht, welchen
der Beteiligten die objektive Beweislast (Feststellungslast)
für die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts trifft. Im
finanzgerichtlichen Verfahren gibt es zwar keine gesetzlich
festgelegten Regeln über die Verteilung der objektiven
Beweislast. Grundsätzlich trifft jedoch die Finanzbehörde
die Feststellungslast für die steuerbegründenden und
-erhöhenden Tatsachen, den Steuerpflichtigen hingegen die
für die steuerentlastenden oder -mindernden Tatsachen (sog.
Beweislastgrundregel; vgl. BFH-Urteil vom 25.7.2000 IX R 93/97,
BFHE 192, 241, BStBl II 2001, 9 = SIS 00 14 49).
bb) Diese Regelung gilt aber nicht ohne
Ausnahme (BFH-Urteil in BFHE 138, 527, BStBl II 1983, 760 = SIS 83 18 44, m.w.N.). Eine Abkehr von der Beweislastgrundregel ist
beispielsweise dann geboten, wenn sich die Nichterweislichkeit auf
eine Tatsache bezieht, die im alleinigen Willens- und
Wissensbereich des Inanspruchgenommenen liegt (vgl. z.B. BFH-Urteil
vom 20.1.1998 VII R 57/97, BFH/NV 1998, 893, m.w.N.). Auch die
unzureichende Erfüllung der Mitwirkungspflichten nach §
90 AO kann bei der Verteilung der objektiven Beweislast eine Rolle
spielen (BFH-Urteil vom 22.9.2004 III R 9/03, BFHE 207, 549, BStBl
II 2005, 160 = SIS 05 02 14). Bei atypischen
Geschehensabläufen kann bei der Beweislastverteilung von
Bedeutung sein, in wessen Sphäre sich dieser Geschehensablauf
ereignet (BFH-Urteil vom 23.1.2002 XI R 55/00, BFH/NV 2002, 1009 =
SIS 02 86 12).
cc) Es kann dahinstehen, ob - wie der
Kläger im Revisionsverfahren vorträgt - das FA nach der
Beweislastgrundregel die Feststellungslast dafür trägt,
dass es in der ursprünglichen Steuerfestsetzung für das
Streitjahr 1975 trotz der in § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO
begründeten „absoluten
Anpassungsverpflichtung“ pflichtwidrig statt eines
Veräußerungsgewinns von 40.974,53 DM 0 DM angesetzt hat,
weil es eine für die Finanzbehörde günstige Tatsache
ist, oder ob die objektive Beweislast nach der Grundregel - wie das
FA meint - dem Kläger obliegt, weil er eine Minderung der
gegen ihn festgesetzten Steuer begehrt. Im Streitfall trägt in
jedem Fall das FA die Feststellungslast für die Behauptung,
dass in der ursprünglichen Einkommensteuerfestsetzung 1975 der
anfänglich festgestellte Veräußerungsgewinn nicht
berücksichtigt worden ist.
Trotz der bundeseinheitlichen Regelung, wonach
Steuerakten nach Ablauf einer zehnjährigen Aufbewahrungsfrist
zu vernichten sind, hätte das FA im Streitfall die
Einkommensteuerakten des Klägers für das Streitjahr 1975
wegen des anhängigen Klageverfahrens gegen den
Feststellungsbescheid aufbewahren müssen. Dies hat das FA
unterlassen, weil es pflichtwidrig vom Betriebsstätten-FA
nicht über das gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 1975
anhängige Einspruchs- bzw. Klageverfahren informiert wurde.
Zudem hat das Betriebsstätten-FA den Kläger - der wegen
der Vollbeendigung der KG einspruchsbefugt war - entgegen §
360 Abs. 3 AO nicht zum Einspruchsverfahren hinzugezogen. Die
Ursachen für die Vernichtung sowohl der Steuerunterlagen des
Klägers als auch der Einkommensteuerakten des FA für das
Streitjahr 1975 sind somit in der Sphäre der Verwaltung zu
finden. Außerdem hat das FG die notwendige Beiladung des
Klägers zum Klageverfahren gegen den
Gewinnfeststellungsbescheid 1975 versäumt. Dies darf ihm nicht
zum Nachteil gereichen.
Im Urteil in BFHE 138, 527, BStBl II 1983, 760
= SIS 83 18 44 hat der VII. Senat des BFH erkannt, dass der
Steuerpflichtige seiner Feststellungslast durch Vorlage der zu
ändernden Steuerbescheide nachkommt, wenn sich aus diesen die
Besteuerungsmerkmale ergeben. Aus dieser Entscheidung kann jedoch -
entgegen der Auffassung des FA - nicht der Umkehrschluss gezogen
werden, dass der Steuerpflichtige seiner Feststellungslast dann
nicht genügt, wenn er die bisherige Steuerfestsetzung durch
Vorlage eines Steuerbescheids, einer Einspruchsentscheidung etc.
nicht belegen kann.
4. Das FG wird im zweiten Rechtsgang das zu
versteuernde Einkommen des Klägers im Jahr 1975 unter
Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns aus der
KG-Beteiligung in Höhe von 40.974,53 DM zu schätzen und
der so ermittelten Einkommensteuer die Steuerbelastung des
Klägers beim Ansatz eines Veräußerungsgewinns von 0
DM gegenüberzustellen haben.
Bei der Schätzung, die zu einem
schlüssigen, wirtschaftlich möglichen und
vernünftigen Ergebnis der laufenden Einkünfte des
Klägers führen muss (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19.1.1993
VIII R 128/84, BFHE 170, 511, BStBl II 1993, 594, 597 = SIS 93 16 30), kann das FG - ähnlich dem Verfahren für die Annahme
eines Streitwerts im Verfahren der einheitlichen und gesonderten
Gewinnfeststellung, in denen die einkommensteuerlichen Auswirkungen
nicht in tatsächlicher Höhe zu berechnen sind - davon
ausgehen, dass sich nur Steuerpflichtige mit einer hohen
Steuerbelastung an Abschreibungsgesellschaften beteiligen (vgl.
z.B. BFH-Beschluss vom 13.5.1986 IV E 2/86, BFH/NV 1988, 110).
Zudem ist zu berücksichtigen, dass im Streitjahr
Veräußerungsgewinne nach § 34 Abs. 1 des
Einkommensteuergesetzes a.F. mit dem halben Steuersatz zu
versteuern waren.