AdV-Antrag bei Gericht, Vorverfahren: Hat die Finanzbehörde einen bei ihr gestellten, jedoch nicht näher begründeten Antrag auf AdV ohne weitere Sachprüfung abgelehnt, so ist für einen anschließenden, nunmehr aber mit Begründung versehenen Antrag auf AdV an das FG die Zugangsvoraussetzung nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO gleichwohl erfüllt (Anschluss an BFH-Beschluss vom 20.8.1998 VI B 157/97, BFHE 186 S. 341, BStBl 1998 II S. 744 = SIS 99 01 50). - Urt.; BFH 20.6.2007, VIII B 50/07; SIS 07 24 97
I. Im Anschluss an eine
Außenprüfung änderte der Antragsgegner und
Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA - ) die
Einkommensteuerfestsetzungen für 1996 bis 1998 für den
Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller).
Der Antragsteller beantragte gleichzeitig
mit seinem dagegen eingelegten Einspruch beim FA am 2.1.2007 die
Aussetzung der Vollziehung (AdV) der geänderten
Einkommensteuerbescheide. Beide Rechtsbehelfe begründete er
zunächst nicht. Das FA lehnte den Aussetzungsantrag mit
Bescheid vom 11.1.2007 ab. Zugleich forderte es den Antragsteller
zur Begründung seines Einspruchs bis zum 12.2.2007 auf. Unter
dem 9.2.2007 beantragte der Antragsteller beim Finanzgericht (FG)
die AdV der Einkommensteueränderungsbescheide 1996 bis 1998
und fügte als Anlage 1.701 Fotokopien zur Begründung
bei.
Das FG lehnte den Antrag nach § 69
Abs. 4 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als unzulässig
ab. Zwar habe das FA den Antrag auf AdV abgelehnt. Indes habe es
mangels Begründung nicht in der Sache prüfen können,
ob die angefochtenen Einkommensteuerbescheide rechtmäßig
seien. Sei bei einem Auswechseln der Begründung ein vorheriger
erneuter Aussetzungsantrag beim FA erforderlich (dazu Beschluss des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13.12.1999 III B 15/99, BFH/NV 2000,
827 = SIS 00 56 11), so müsse dies erst recht nach Sinn und
Zweck der Zugangsvoraussetzung in § 69 Abs. 4 FGO,
nämlich die Finanzgerichte zu entlasten, im Falle der
Ablehnung eines bei der Behörde überhaupt nicht
begründeten Antrags als unzulässig gelten.
Insbesondere könne in einem
gerichtlichen Aussetzungsverfahren nicht erstmals ohne
größeren Aufwand eine summarische Prüfung
vorgenommen werden, wie der BFH im Beschluss vom 20.8.1998 VI B
157/97 (BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744 = SIS 99 01 50)
ausführe.
Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde,
welcher das FG nicht abgeholfen hat, macht der Antragsteller
geltend, § 69 FGO verlange nicht - wie das FG meine -, dass
das FA zuvor die Möglichkeit gehabt haben müsse, sich mit
der erst beim FG eingereichten Begründung auseinanderzusetzen.
Der eindeutige Wortlaut des § 69 Abs. 4 FGO sei keiner weiter
gehenden Auslegung zugänglich.
Durch die Handhabung des Verfahrens habe
das FA zudem zu erkennen gegeben, dass eine Begründung des
Aussetzungsantrages für dessen Entscheidungsfindung
entbehrlich sei. Überdies habe das FA den nach
fünfjähriger Prüfung erstellten
Betriebsprüfungsbericht selbst ausgewertet und könne
somit die Richtigkeit der darauf beruhenden geänderten
Steuerfestsetzungen ohne weitere Begründung
überprüfen.
Die vom FG herangezogenen Entscheidungen
des BFH seien nicht einschlägig, vielmehr müsse es bei
dem Beschluss des VI. Senats des BFH in BFHE 186, 341, BStBl II
1998, 744 = SIS 99 01 50 verbleiben.
Der Antragsteller beantragt
sinngemäß, wie im finanzgerichtlichen Verfahren, die AdV
ohne Sicherheitsleistung der Einkommensteueränderungsbescheide
für 1996 bis 1998 vom 14.12.2006.
Das FA beantragt, die Beschwerde
zurückzuweisen.
II. Die zulässige Beschwerde ist
begründet.
Auf die Beschwerde des Antragstellers ist der
angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückzuverweisen.
1. Nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist ein
unmittelbar bei dem Gericht der Hauptsache angebrachter Antrag auf
AdV nur zulässig, wenn die Behörde zuvor einen Antrag auf
AdV ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Diese Voraussetzung ist, wie
das FG nicht verkannt hat, dem Gesetzeswortlaut nach erfüllt.
Das FA hat den Antrag auf AdV, den der Antragsteller gestellt hat,
abgelehnt. Die Vorschrift in § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist jedoch
entgegen der Ansicht des FG nicht einschränkend dahin
auszulegen, dass eine Ablehnung der AdV durch die
Finanzbehörde nur dann ausreiche, wenn der Antragsteller
seinen Aussetzungsantrag der Behörde gegenüber in der
Sache begründet und sich die Behörde mit dieser
Begründung in der Ablehnungsentscheidung auch
auseinandergesetzt habe. Diese Rechtsansicht, die auch von
verschiedenen anderen Finanzgerichten vertreten wird, kann sich
zwar auf den Entlastungszweck der Vorschrift berufen (vgl. dazu
Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur
Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und
Finanzgerichtsbarkeit, BTDrucks 8/842, S. 16, zu Art. 3 § 7
des Gesetzentwurfs, sowie zum Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze,
BTDrucks 12/1061, S. 15, zu § 69 dieses Entwurfs). Damit
würde erreicht, dass sich das FG mit dem Antrag auf AdV in der
Sache erst dann befassen muss, wenn sich zuvor das FA mit der
Begründung des Antrags auseinandergesetzt hat. Indes steht
dieser Rechtsansicht der eindeutige Gesetzeswortlaut entgegen.
2. Der erkennende Senat schließt sich
entgegen zahlreicher gegenteiliger Entscheidungen der Finanzerichte
(vgl. z.B. Beschlüsse des FG Baden-Württemberg vom
20.5.1996 6 V 16/95, EFG 1996, 994; FG Saarland vom 22.3.2001 1 V
67/01, juris = SIS 01 82 72; vom 19.10.1993 1 V 191/93, juris; FG
Hamburg vom 1.3.2006 V 221/05, juris = SIS 06 27 39; vom 26.6.2002
I 22/02, juris) in Übereinstimmung mit dem überwiegenden
Schrifttum (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl.,
§ 69 Rz 71; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 74; Gosch in
Beermann/Gosch, FGO, § 69 Rz 275; Birkenfeld in
Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 69 FGO Rz 1091;
Schwedhelm/Binnewies, DStR 1997, 1235) der ausführlich
begründeten Rechtsauffassung des VI. Senats des BFH im
Beschluss in BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744 = SIS 99 01 50 an.
Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber eine
„qualifizierte“ Ablehnung durch das FA verlangt,
ergeben sich aus den zitierten Gesetzesmaterialien nicht. Wie der
BFH bereits mehrfach entschieden hat, ist es auch unter der Geltung
des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO nicht vertretbar, den Zugang zum
Gericht in Aussetzungssachen durch eine einengende Auslegung dieser
Vorschrift, die ohnehin schon eine Zugangsschranke enthält,
über ihren Wortlaut hinaus ohne eine eindeutige
Äußerung des Gesetzgebers weiter einzuschränken.
Danach folgt die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes aus
dem in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verankerten Gebot zur
Einräumung und Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzes.
Deshalb ist es den Gerichten versagt, durch eine einengende
Auslegung der Ausnahmevorschrift in § 69 Abs. 4 FGO über
ihren Wortlaut hinaus weiter gehende Zugangsbeschränkungen im
Wege einer Rechtsfortbildung vorzunehmen (BFH-Beschlüsse vom
11.2.1999 XI S 14/98, BFH/NV 1999, 926 = SIS 98 58 51; vom
4.10.1995 VII B 136/95, BFH/NV 1996, 236, jeweils m.w.N.). §
69 Abs. 4 Satz 1 FGO macht die Anrufung des FG auch nicht von der
Stellung eines zulässigen und begründeten
Aussetzungsantrags abhängig. Vielmehr hat das FG prinzipiell
von Amts wegen im Rahmen allerdings einer lediglich summarischen
Prüfung zu entscheiden. Der vorliegende Prozessstoff ist bis
zur Entscheidung der Frage, ob ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes
bestehen oder nicht, auszuschöpfen (vgl. BFH-Beschluss vom
23.7.1968 II B 17/68, BFHE 92, 440A, BStBl II 1968, 589 = SIS 68 04 03). Der summarische Charakter des Verfahrens über die AdV
führt allerdings im Interesse der Beschleunigung und mit
Rücksicht auf die vorläufige Natur der darin zu
treffenden Anordnungen dazu, dass der das finanzgerichtliche
Verfahren sonst beherrschende Untersuchungsgrundsatz gegenüber
der Pflicht der Beteiligten zur Mitwirkung bei der
Sachaufklärung zurücktritt (vgl. BFH-Beschlüsse vom
22.11.1968 VII B 165/67, BFHE 94, 472; vom 10.7.1997 V B 152/96,
BFH/NV 1998, 357 = SIS 98 04 40). Danach können der
Entscheidung über die AdV in der Regel nur solche Tatsachen
zugrunde gelegt werden, die sich aus dem angefochtenen
Verwaltungsakt oder dem glaubhaft gemachten Vortrag der Beteiligten
ergeben.
Verlangte man, dass der Antragsteller - bevor
er sich an das FG wendet - seinen Antrag beim FA substantiiert
begründet und dass dieses sich mit dieser Begründung in
seiner Entscheidung über den Antrag auseinandersetzt, so
ergäben sich weitere Zweifelsfragen, z.B. wie bei
unvollständiger oder oberflächlicher Begründung zu
verfahren ist. Das würde zu einer weiteren Verkomplizierung
des auf Beschleunigung angelegten Aussetzungsverfahrens führen
(so zutreffend BFH-Beschluss in BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744 =
SIS 99 01 50).
3. Zu Recht weist der Antragsteller auch
darauf hin, dass der vom FG herangezogene Beschluss des BFH in
BFH/NV 2000, 827 = SIS 00 56 11 einen rechtlich mit dem
vorliegenden Fall nicht vergleichbaren Sachverhalt betrifft; denn
dort wurde ein völlig neuer Problembereich unterbreitet, der
zuvor noch nicht Gegenstand der Prüfung durch die
Finanzbehörde gewesen war und sein konnte (so auch
BFH-Beschluss vom 1.2.2006 X B 166/05, BFHE 212, 242, BStBl II
2006, 420 = SIS 06 12 72). In einem derartigen Fall fehlt die
für § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO notwendige Identität der
Verfahrensgegenstände (dazu Gräber/Koch, a.a.O., §
69 Rz 74).
Umgekehrt hat deshalb der V. Senat des BFH im
Beschluss vom 30.1.2001 V S 24/00 (BFH/NV 2001, 658 = SIS 01 64 98)
in einem Fall, in dem die Steuerfestsetzung aufgrund von
Vorauszahlungsbescheiden zwischenzeitlich durch den
Umsatzsteuerjahresbescheid abgelöst worden war, die
Zugangsvoraussetzung gemäß § 69 Abs. 4 FGO als
erfüllt angesehen, nachdem das FA in einem früheren
Verfahrensabschnitt die AdV der vorausgegangenen
Vorauszahlungsbescheide abgelehnt hatte, weil der Gegenstand des
Rechtsstreits dieselben Rechtsfragen betreffe.
4. Der auf einer anderen Rechtsauffassung
beruhende Beschluss des FG ist aufzuheben.
Der Senat entscheidet nicht selbst über
den Aussetzungsantrag, sondern verweist die Sache an das FG
zurück. Eine Zurückverweisung ist auch im
Beschwerdeverfahren betreffend die AdV zulässig. Die Befugnis
zur Zurückverweisung der Sache ergibt sich aus den
§§ 132, 155 FGO i.V.m. § 572 Abs. 3 der
Zivilprozessordnung. Die Zurückverweisung erscheint im
Streitfall schon deshalb zweckmäßig, weil das FG den
Aussetzungsantrag lediglich aus formellen Gründen abgelehnt
hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25.10.1995 VIII B 79/95, BFHE
179, 207, BStBl II 1996, 316 = SIS 96 14 89; vom 25.6.2001 V B
6/01, BFH/NV 2001, 1589 = SIS 01 81 68; vom 23.7.2002 X B 209/01,
BFH/NV 2002, 1487 = SIS 02 98 42, m.w.N.).