Kindergeldbescheid, Korrektur bei Rechtsprechungsänderung und Abweichung von Prognose: 1. Eine bestandskräftige Aufhebung der Kindergeldfestsetzung im laufenden Kalenderjahr wegen der voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag übersteigenden Einkünfte und Bezüge des Kindes (Prognoseentscheidung) kann nicht allein aufgrund geänderter Rechtsauffassung nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben werden. Lagen bei der Prognoseentscheidung die Einkünfte und Bezüge des Kindes nur deshalb über dem Jahresgrenzbetrag, weil die Familienkasse entgegen der später ergangenen Rechtsprechung des BVerfG die Arbeitnehmerbeiträge des Kindes zur gesetzlichen Sozialversicherung als Einkünfte angesetzt hat, kommt daher eine Aufhebung nach Ablauf des Kalenderjahres nicht in Betracht (Bestätigung der Rechtsprechung). - 2. Hätten dagegen bei der Prognoseentscheidung die prognostizierten Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag auch nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge überschritten, ist der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG wieder eröffnet, wenn sich die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge gegenüber den prognostizierten Beträgen geändert haben. - 3. In diesem Fall hat die Familienkasse bei der Prüfung nach Ablauf des Kalenderjahres, ob die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes gegenüber der Prognoseentscheidung in entscheidungserheblicher Weise abweichen, die geänderte Rechtsauffassung zur Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge zu beachten und die als Prognoseentscheidung ergangene bestandskräftige Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben, wenn die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge abzüglich der Sozialversicherungsbeiträge den Jahresgrenzbetrag nicht überschreiten. - Urt.; BFH 10.5.2007, III R 103/06; SIS 07 23 53
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) erhielt für seinen im Jahr 1977 geborenen Sohn
Kindergeld.
Mit Bescheid vom 17.6.2003 hob die Beklagte
und Revisionsklägerin (Familienkasse) die
Kindergeldfestsetzung ab Januar 2003 auf, weil der Sohn
voraussichtlich Einkünfte und Bezüge von mehr als 7.188
EUR im Jahr 2003 habe (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des
Einkommensteuergesetzes - EStG - in der für das Jahr 2003
geltenden Fassung). Die Familienkasse ging dabei von
Einkünften in Höhe von 10.556 EUR aus (Bruttoarbeitslohn
in Höhe von 11.600 EUR abzüglich
Arbeitnehmer-Pauschbetrag in Höhe von 1.044 EUR). Der Bescheid
wurde nicht angefochten.
Am 26.5.2004 beantragte der Kläger
unter Vorlage des Einkommensteuerbescheids des Sohnes für das
Jahr 2003 erneut Kindergeld für das Jahr 2003, da das zu
versteuernde Einkommen des Sohnes danach lediglich 4.271 EUR
betrage. In dem Einkommensteuerbescheid 2003 waren Einkünfte
aus nichtselbstständiger Arbeit in Höhe von 7.293 EUR
(Bruttoarbeitslohn in Höhe von 12.498 EUR abzüglich
Werbungskosten in Höhe von 5.205 EUR) und Einkünfte aus
Kapitalvermögen von 0 EUR (Einnahmen in Höhe von 421 EUR
abzüglich des Werbungskostenpauschbetrags in Höhe von 51
EUR und des Sparer-Freibetrags in Höhe von 370 EUR) angesetzt.
Die Familienkasse ermittelte daraufhin - ohne Abzug der
gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge - Einkünfte des
Sohnes in Höhe von 8.449,80 EUR (Bruttoarbeitslohn in
Höhe von 12.498 EUR abzüglich Werbungskosten in Höhe
von 4.238,20 EUR zuzüglich Kapitaleinkünfte in Höhe
von 190 EUR). Mit Bescheid vom 16.11.2004 lehnte die Familienkasse
den Antrag ab, da die Einkünfte und Bezüge des Sohnes im
Jahr 2003 weiterhin den maßgeblichen Grenzbetrag
überstiegen.
Hiergegen legte der Kläger Einspruch
ein. Die Familienkasse half dem Einspruch mit Bescheid vom
28.6.2005 insoweit ab, als sie Kindergeld für die Monate Juli
bis Dezember 2003 festsetzte, da die Einkünfte und Bezüge
des Sohnes nach Abzug der gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 2.588
EUR den Jahresgrenzbetrag nicht überschritten. Das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte mit Beschluss vom 11.1.2005
2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28) entschieden, die Sozialversicherungsbeiträge
dürften nicht in die Bemessungsgröße für den
Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
einbezogen werden. Im Übrigen wies die Familienkasse den
Einspruch des Klägers zurück. Einer Festsetzung von
Kindergeld für die Monate Januar bis Juni 2003 stehe die
Bestandskraft des Bescheids vom 17.6.2003 entgegen; eine Korrektur
dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG sei nicht
möglich.
Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die
Familienkasse unter Aufhebung des Bescheids vom 16.11.2004 und der
Einspruchsentscheidung, dem Kläger für die Monate Januar
bis Juni 2003 Kindergeld zu gewähren. Das Urteil ist in EFG
2006, 752 = SIS 06 22 01 veröffentlicht.
Mit ihrer Revision rügte die
Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Die Familienkasse beantragt, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und nach
§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
zurückzuweisen.
Nach zutreffender Entscheidung des FG ist dem
Kläger für die Monate Januar bis Juni 2003 Kindergeld zu
gewähren.
1. Der Kläger hat für das Jahr 2003
Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn. Nach § 62 Abs.
1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wird
ein volljähriges Kind - neben weiteren, hier nicht streitigen
Voraussetzungen - für das Kindergeld berücksichtigt, wenn
es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des
Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind,
von nicht mehr als 7.188 EUR im Kalenderjahr (2003) hat. Im
Streitfall überschreiten die Einkünfte und Bezüge
des Sohnes im Jahr 2003 nach Abzug der unstreitigen Werbungskosten
in Höhe von 4.238,20 EUR und der gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 2.588
EUR (vgl. hierzu Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV
2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28) nicht den Grenzbetrag.
2. Der Bescheid vom 17.6.2003, mit welchem die
Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2003 aufgehoben
hat, ist nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben.
a) Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine
Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn
nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und
Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4
Satz 2 EStG über- oder unterschreiten. Die gesetzliche
Formulierung ist insoweit ungenau, als der Kindergeldanspruch nicht
davon abhängt, dass die Einkünfte und Bezüge des
Kindes den Jahresgrenzbetrag unterschreiten, sondern dass sie ihn
nicht überschreiten (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG).
b) Unter Kindergeldfestsetzung ist nicht nur
ein Bescheid zu verstehen, mit dem Kindergeld festgesetzt wird,
sondern auch ein Bescheid, mit dem ein Antrag auf Kindergeld
abgelehnt oder - wie im Streitfall - eine Kindergeldfestsetzung
aufgehoben wird (Senatsurteil vom 28.11.2006 III R 6/06, BFH/NV
2007, 338 = SIS 07 03 15, m.w.N.).
c) § 70 Abs. 4 EStG setzt voraus, dass
die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder - wie im
Streitfall - während des fraglichen Kalenderjahres als
Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und
Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist (Senatsurteil
vom 28.6.2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204 = SIS 06 38 92).
d) Das nachträgliche Bekanntwerden vom
Überschreiten oder Nichtüberschreiten des
Jahresgrenzbetrags bezieht sich auf von der Prognose abweichende
tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der
Einkünfte und Bezüge, nicht aber auf Änderungen, die
auf nachträglich ergangener Rechtsprechung zur Auslegung des
§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG beruhen, wie z.B. der Abziehbarkeit
der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den
Einkünften des Kindes (Senatsurteil in BFH/NV 2007, 338 = SIS 07 03 15).
Im Streitfall haben sich zugunsten des
Klägers tatsächliche Änderungen hinsichtlich des
Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben. Die
Familienkasse ging bei Erlass des Aufhebungsbescheids vom 17.6.2003
davon aus, dass die Werbungskosten des Sohnes den
Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1.044 EUR (vgl. § 9a Satz 1 Nr.
1 EStG i.d.F. für das Jahr 2003) nicht übersteigen. Nach
Ablauf des Jahres 2003 ist der Familienkasse bekannt geworden, dass
die Werbungskosten jedenfalls - in dieser Höhe sind die
Werbungskosten unstreitig - 4.238,20 EUR betragen. Unerheblich ist,
ob der Kläger die tatsächliche Entwicklung der
Werbungskosten seines Sohnes bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des
Aufhebungsbescheids vom 17.6.2003 absehen konnte. Bei der
Prüfung des nachträglichen Bekanntwerdens ist auf die
Kenntnis der Familienkasse abzustellen (so zutreffend Felix in
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 70 Rz E 4).
Der Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG steht
im Streitfall nicht entgegen, dass der Grenzbetrag nur dann nicht
überschritten ist, wenn zusätzlich zu den höheren
Werbungskosten auch - entsprechend der geänderten
Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
(vgl. hierzu Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005,
Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28) - die gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften des Kindes
abgezogen werden. Insofern ist keine einschränkende Auslegung
des § 70 Abs. 4 EStG geboten, weil das nachträgliche
Bekanntwerden des Nichtüberschreitens des Jahresgrenzbetrags
nicht auf einer unzutreffenden Behandlung der gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge beruht. Ist aber der
Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG eröffnet, hat die
Familienkasse die zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung geltende Sach-
und Rechtslage und damit den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112,
164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 zu beachten.
Für die Anwendbarkeit des § 70 Abs.
4 EStG ist im Streitfall maßgeblich, dass die von der
Familienkasse während des Kalenderjahres prognostizierten
Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag auch bei
einem Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge
überschritten haben. Der Aufhebungsbescheid der Familienkasse
war somit rechtmäßig. Das Nichtüberschreiten des
Grenzbetrags nach Jahresablauf beruht mithin nicht auf einem
materiellen Fehler der Familienkasse, sondern auf
tatsächlichen Änderungen hinsichtlich des Betrags der
Einkünfte und Bezüge. Die Aufhebung des Bescheids vom
17.6.2003 entspricht daher dem Zweck des § 70 Abs. 4 EStG, die
Korrektur von Kindergeldbescheiden nach Ablauf des Kalenderjahres
sicherzustellen, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes
den Jahresgrenzbetrag entgegen einer früheren
Prognoseentscheidung der Familienkasse überschreiten oder
nicht überschreiten (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2007, 338 =
SIS 07 03 15). Auch steht dessen Aufhebung nicht im Widerspruch zu
§ 70 Abs. 3 Satz 2 EStG, nach dem materielle Fehler nur mit
Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder
Aufhebung folgenden Monat korrigiert werden können, da die
Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG - wie ausgeführt - im
Streitfall nicht zur rückwirkenden Berichtigung eines
materiellen Fehlers der Familienkasse führt.
Anders wäre der Streitfall hingegen zu
beurteilen, wenn die prognostizierten Einkünfte und
Bezüge des Kindes im Jahr 2003 bei Abzug der gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge innerhalb des Jahresgrenzbetrags
gelegen hätten. Denn dann hätten die nach Ablauf des
Jahres der Familienkasse bekannt gewordenen erhöhten
Werbungskosten allein nicht dazu geführt, dass der Grenzbetrag
unterschritten wird. In diesem Fall würde eine Aufhebung nach
§ 70 Abs. 4 EStG im Ergebnis dazu führen, dass ein
materieller Fehler der Familienkasse (Nichtberücksichtigung
der Sozialversicherungsbeiträge) rückwirkend berichtigt
wird. Dies widerspräche jedoch dem Zweck des § 70 Abs. 4
EStG und der gesetzgeberischen Wertung in § 70 Abs. 3 Satz 2
EStG.
Die Korrektur im Streitfall nach § 70
Abs. 4 EStG steht ferner im Einklang mit dem Urteil des Senats in
BFH/NV 2007, 338 = SIS 07 03 15, nach dem § 70 Abs. 4 EStG
nicht anwendbar ist, wenn die Einkünfte und Bezüge den
Jahresgrenzbetrag nur deshalb nicht überschreiten, weil
aufgrund der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV
2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28 nach Erlass des
bestandskräftigen Kindergeldbescheids abweichend von der
bisherigen Rechtsauffassung (vgl. BFH-Urteil vom 4.11.2003 VIII R
59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584 = SIS 04 05 45, m.w.N.)
die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes von den
Einkünften abzurechnen sind. In dem dort entschiedenen Fall
hatten sich nach Ablauf des Kalenderjahres keine tatsächlichen
Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und
Bezüge ergeben. Vielmehr lagen die prognostizierten
Einkünfte und Bezüge des Kindes nur bei einem Abzug der
gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge unter dem
Grenzbetrag. Die Familienkasse hatte die Kindergeldfestsetzung
aufgehoben, weil sie - aufgrund unzutreffender Auslegung des §
32 Abs. 4 Satz 2 EStG - davon ausging, dass die
Sozialversicherungsbeiträge nicht von den Einkünften des
Kindes abzuziehen seien und deshalb Jahresgrenzbetrag
überschritten war. Das nachträgliche Bekanntwerden des
Nichtüberschreitens des Jahresgrenzbetrags beruhte demnach
allein auf einer unzutreffenden Behandlung der gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge und damit einem materiellen Fehler
des Aufhebungsbescheids.