Substantiierter Beweisantrag, Ablehnung: 1. Eine Beweisaufnahme zu einem streitigen Vorbringen darf nicht abgelehnt werden, wenn der dem Beweisantrag zugrundeliegende Tatsachenvortrag konkret genug ist, um die Erheblichkeit des Vorbringens beurteilen zu können. - 2. Ein Beweisantrag des Inhalts, ein Arbeitnehmer habe den "Mittelpunkt seiner Lebensinteressen" i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG an einem bestimmten Ort innegehabt, ist hinreichend substantiiert und bestimmt. Eine Pflicht, die den Begriff des Lebensmittelpunkts prägenden Einzeltatsachen zusätzlich zu benennen und unter Beweis zu stellen, besteht regelmäßig nicht. - 3. Begründet ein FG im angefochtenen Urteil, weshalb es von der Erhebung eines beantragten Beweises abgesehen hat, so genügt für eine ordnungsgemäße Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht regelmäßig der Vortrag, das FG sei dem Beweisantritt nicht gefolgt. - Urt.; BFH 1.2.2007, VI B 118/04; SIS 07 10 41
Die Beschwerde ist begründet. Sie
führt gemäß § 116 Abs. 6 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und
Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG). Das
angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensmangel (§ 115
Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Die Klägerin und
Beschwerdeführerin (Klägerin) begehrte mit ihrer Klage
den Ansatz der Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4
des Einkommensteuergesetzes - EStG - ) für die Wege von ihrem
(Sommer-)Wohnsitz in X zu ihrer Arbeitsstätte in B für
fünf Monate (Mai bis September 2002). Das FG hat die Klage
abgewiesen. Es vertrat hierbei die Auffassung, der
Lebensmittelpunkt der Klägerin i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3
Nr. 4 Satz 7 EStG (in der im Streitjahr 2002 geltenden Fassung)
habe sich in der maßgeblichen Zeit nicht in X, sondern
weiterhin in der Wohnung der Klägerin in B befunden. Seine
Überzeugungsbildung hat das FG auf verschiedene Umstände
gestützt (u.a. Stromverbrauch, Umfang der PKW-Nutzung,
Lichtbilder, etc.).
2. Wie die Klägerin zutreffend rügt,
hat das FG seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1
FGO) verletzt.
a) Wie sich aus den Gründen des
angefochtenen Urteils ergibt, hatte die Klägerin beantragt,
zwei Zeugen (davon den Zeugen M mit ladungsfähiger Anschrift)
darüber zu vernehmen, dass die Klägerin in dem genannten
Zeitraum ihren Lebensmittelpunkt (ausschließlich) in X gehabt
habe. Diesem Beweisantrag ist das FG - da vermeintlich
unsubstantiiert - nicht nachgekommen.
b) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht
das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Das Gericht ist dabei
an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten
nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Das gilt aber nur in
dem Sinne, dass das FG von sich aus auch Beweise erheben kann, die
von den Parteien nicht angeboten sind (u.a. Bundesfinanzhof - BFH -
Beschluss vom 27.5.2005 VII B 38/04, BFH/NV 2005, 1496 = SIS 05 36 70; Urteil vom 22.4.1988 III R 59/83, BFH/NV 1989, 38). Von den
Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG
grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel
vermeiden will (vgl. auch BFH-Beschluss vom 21.12.2005 I B 249/04,
BFH/NV 2006, 780 = SIS 06 15 59). Auf die beantragte Beweiserhebung
kann es im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für
die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage
stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr
unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist
oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich
ist (ständige Rechtsprechung; z.B. BFH-Urteile vom 16.11.2005
VI R 71/99, BFH/NV 2006, 753 = SIS 06 15 32; vom 27.7.2000 V R
38/99, BFH/NV 2001, 181 = SIS 01 52 43; Beschluss vom 30.12.2002 XI
B 58/02, BFH/NV 2003, 787 = SIS 03 24 27; Urteil vom 12.4.1994 IX R
101/90, BFHE 174, 301, BStBl II 1994, 660 = SIS 94 20 97). Ferner
ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten
Beweisanträgen nachzugehen (z.B. BFH-Beschlüsse vom
2.8.2006 IX B 58/06, BFH/NV 2006, 2117 = SIS 06 42 07; vom 2.3.2006
XI B 79/05, BFH/NV 2006, 1132 = SIS 06 21 59; vom 10.3.2005 X B
66/04, BFH/NV 2005, 1339 = SIS 05 32 47; Urteil vom 21.6.1988 VII R
135/85, BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841 = SIS 88 19 50;
Gräber/ Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., §
76 Rz 29).
c) Entgegen der Auffassung des FG war der
Beweisantritt der Klägerin hinreichend substantiiert bzw.
bestimmt.
Es entspricht ständiger Rechtsprechung,
dass die Ablehnung eines für eine beweiserhebliche Tatsache
angetretenen Zeugenbeweises nur dann zulässig ist, wenn die
unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass
ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann, oder wenn sie zwar
in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet,
aber aufs Geratewohl gemacht, gleichsam „ins Blaue
hinein“ aufgestellt, mit anderen Worten, aus der Luft
gegriffen ist und sich deshalb als Rechtsmissbrauch darstellt (vgl.
Bundesgerichtshof - BGH - Beschluss vom 1.6.2005 XII ZR 275/02, NJW
2005, 2710 = SIS 05 44 12; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom
14.4.2003 1 BvR 1998/02, BVerfGK 1, 111; Gräber/Stapperfend,
a.a.O., § 76 Rz 29, m.w.N.). Zur Substantiierung wurde in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung wiederholt entschieden,
dass der Vortrag von Tatsachen ausreichend ist, die in Verbindung
mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, die daraus
abgeleiteten Rechtsfolgen zu tragen. Der Pflicht zur
Substantiierung ist nur dann nicht genügt, wenn das Gericht
auf Grund der Darstellung nicht beurteilen kann, ob die
gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften
Rechtsfolgen erfüllt sind (BGH-Urteil vom 25.7.2005 II ZR
199/03, DStR 2005, 1782, m.w.N.). Dabei ist die Angabe näherer
Einzelheiten grundsätzlich nicht nötig (vgl. BGH-Urteil
vom 25.2.1992 X ZR 88/90, NJW 1992, 1967, 1968). Diese zu den
Vorschriften der §§ 373, 377 Abs. 2 Nr. 2 der
Zivilprozessordnung (ZPO) entwickelten Grundsätze sind auch
für das finanzgerichtliche Verfahren maßgebend (vgl.
§ 82 FGO).
d) Das FG hat im Streitfall nicht beachtet,
dass der - ursprünglich von der Rechtsprechung geschaffene und
seit 1990 in das Gesetz in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 3 EStG
übernommene - Begriff des (örtlichen)
„Mittelpunkts der Lebensinteressen“ nicht nur
einen Rechtsbegriff, sondern auch eine beweisfähige
Tatsachenbehauptung darstellt. Dem steht nicht entgegen, dass die
Entscheidung über den Lebensmittelpunkt eine tatrichterliche
Würdigung aller Umstände des Einzelfalles erfordert (z.B.
BFH-Urteil vom 23.11.2003 VI R 152/99, BFHE 204, 189, BStBl II
2004, 233 = SIS 03 53 58) bzw. sich diese Tatsache aus einer
Zusammenschau mehrerer Einzeltatsachen ergibt (u.a.
Verhältnisse des Steuerpflichtigen, Art und Intensität
der sozialen Kontakte, Vereinszugehörigkeiten und andere
Aktivitäten; zu den Einzeltatsachen vgl. von Bornhaupt in
Festschrift für Offerhaus, S. 419 ff., 428; derselbe in
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 9 Rz F 150 ff.; Wagner
in Heuermann/Wagner, LSt, F 193 ff., insbes. 198; Bergkemper in
Herrmann/Heuer/Raupach, § 9 EStG Rz 462, jeweils mit
zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen; ausführlich hierzu
bereits: BFH-Urteil vom 13.12.1985 VI R 7/83, BFHE 145, 386, BStBl
II 1986, 221 = SIS 86 05 41; zuletzt Beschluss vom 28.1.2003 VI B
161/00, BFH/NV 2003, 793 = SIS 03 24 37). Angesichts dieser seit
vielen Jahren bekannten Sach- und Rechtslage würde eine
Pflicht zur Angabe aller dieser Einzeltatsachen eine
überspitzte Anforderung an die Zulässigkeit des
Beweisantrags darstellen. Die Angabe der Klägerin war mithin
konkret genug, um dem Gericht eine Grundlage für seine
Beweiserhebung zu geben bzw. den „Gegenstand der
Vernehmung“ (§ 377 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) zureichend zu
bestimmen (siehe auch BFH-Urteil vom 13.3.1996 II R 39/94, BFH/NV
1996, 757; Oberlandesgericht - OLG - München, Urteil vom
19.11.1999 23 U 4502/99, MDR 2000, 1096 mit Anm. Schneider, MDR
2000, 1395; OLG Köln, Beschluss vom 4.2.1999 19 W 4/99,
NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht - NJW-RR - 1999, 1155).
e) Der von der Klägerin gestellte
Beweisantrag war auch entscheidungserheblich. Es kann nicht
ausgeschlossen werden, dass das FG bei ordnungsgemäßer
Behandlung des Beweisantrags zu einem anderen Ergebnis in der Sache
gelangt wäre.
3. Zur Klarstellung weist der Senat darauf
hin, dass der Mittelpunkt der Lebensführung eines
Steuerpflichtigen auch zeitlich begrenzt sein kann (vgl. zur Frage
des Wechsels des Lebensmittelpunktes: von Bornhaupt in Festschrift
Offerhaus, S. 419 ff., 428; Schmidt/Drenseck, EStG, 25. Aufl.,
§ 9 Rz 115 a.E.; vgl. auch BFH-Urteile vom 10.11.1978 VI R
127/76, BHE 127, 6, BStBl II 1979, 335 = SIS 79 01 64; vom
3.10.1985 VI R 168/84, BFHE 144, 449, BStBl II 1986, 95 = SIS 86 02 50 mit Anm. in HFR 1986, 51, 52 - zur Möglichkeit des
Bestehens von zwei zeitlich nacheinander liegenden Mittelpunkten
der Lebensinteressen eines Steuerpflichtigen während eines
Veranlagungszeitraums).
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten und
Beschwerdegegners (Finanzamt) hat die Klägerin ihr
Rügerecht nicht verloren. Begründet - wie hier - ein FG
im angefochtenen Urteil, weshalb es von der Erhebung eines
beantragten Beweises abgesehen hat, genügt für eine
ordnungsgemäße Rüge der Verletzung der
Sachaufklärungspflicht der Vortrag, das FG sei dem
Beweisantritt nicht gefolgt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 1.9.2006
VIII B 81/05, BFH/NV 2006, 2297 = SIS 06 45 14; vom 5.2.2004 V B
205/02, BFH/NV 2004, 964 = SIS 04 22 93, jeweils m.w.N.; Urteil in
BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841, 842 = SIS 88 19 50).
5. Der Senat hält es für angezeigt,
im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens gemäß
§ 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Er hebt deshalb das Urteil der
Vorinstanz auf und verweist die Sache an das FG zurück, damit
dieses die erforderlichen Feststellungen nachholen kann.