Arbeitnehmer, keine Antragsveranlagung nach Veranlagung von Amts wegen: Für die Durchführung des Veranlagungsverfahrens bedarf es keines Antrags des Steuerpflichtigen gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG (mehr), wenn das FA das Veranlagungsverfahren von sich aus bereits durchgeführt und die Einkommensteuer festgesetzt hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn bei Erlass des Steuerbescheids aus der insoweit maßgeblichen Sicht des FA die Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen vorlagen. - Urt.; BFH 22.5.2006, VI R 15/05; SIS 06 37 15
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind Ehegatten und werden zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte im Streitjahr
2000 als Steuerreferent bei einer
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Einkünfte aus
nichtselbständiger Arbeit. Darüber hinaus erzielte er
Einkünfte aus selbständiger Arbeit, aus
Kapitalvermögen sowie aus Vermietung und Verpachtung.
Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte
(das Finanzamt - FA - ) die Kläger erfolglos zur Abgabe der
Einkommensteuererklärung aufgefordert hatte, erließ er
für das Streitjahr einen Einkommensteuerbescheid vom
28.11.2002, wobei er die Besteuerungsgrundlagen gemäß
§ 162 der Abgabenordnung (AO 1977) schätzte. Der Bescheid
erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Zugleich setzte
das FA wegen der Nichtabgabe der Steuererklärung einen
Verspätungszuschlag fest. Die Kläger legten gegen den
Schätzungsbescheid Einspruch ein. Ihre
Einkommensteuererklärung ging beim FA am 3.1.2003 ein. Bei der
Auswertung der Steuererklärung gelangte das FA zu der
Auffassung, dass die Summe der einkommensteuerpflichtigen
Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu
unterwerfen waren, negativ sei.
Daraufhin hob das FA nach Anhörung der
Kläger den Schätzungsbescheid auf und verfügte, dass
eine Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer für das
Streitjahr nicht durchgeführt werde. Die im vorliegenden Fall
allein in Betracht kommende Antragsveranlagung gemäß
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht
durchzuführen, weil der Antrag auf Veranlagung nicht
fristgerecht gestellt worden sei.
Das Finanzgericht (FG) wies die nach
erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage ab (vgl. SIS 05 42 49). Die
Kläger hätten keinen Anspruch auf Durchführung einer
Veranlagung, da sie einen entsprechenden Antrag nicht innerhalb der
dafür nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG vorgesehenen
Zweijahresfrist gestellt hätten. Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Der Kläger
müsse als ein auf dem Gebiet des Steuerrechts tätiger,
berufsmäßiger Vertreter die steuerlichen Vorschriften
des materiellen und formellen Rechts kennen. Auch das Verhalten des
FA sei nicht geeignet, eine Wiedereinsetzung zu rechtfertigen. Die
Kläger hätten trotz des Schätzungsbescheids nicht
auf die Durchführung einer Veranlagung vertrauen
dürfen.
Mit der Revision rügen die Kläger
Verletzung materiellen Rechts. Mit Erlass des
Schätzungsbescheids habe das FA das Veranlagungsverfahren
selbst in Gang gesetzt. In einem solchen Fall sei ein Antrag nach
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nicht erforderlich, weil das
Veranlagungsverfahren bereits laufe.
Die Kläger beantragen, das
angefochtene Urteil, die Nichtveranlagungsverfügung sowie die
Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, sie
für den Veranlagungszeitraum 2000 zur Einkommensteuer zu
veranlagen.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Das
angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage stattzugeben
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -
). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz war das FA nicht berechtigt,
den Einkommensteuerbescheid ersatzlos aufzuheben. Das FA ist
vielmehr verpflichtet, die Einkommensteuer für das Streitjahr
unter Berücksichtigung der Einkommensteuererklärung
festzusetzen.
1. Gemäß § 25 Abs. 1 EStG wird
die Einkommensteuer nach Ablauf des Kalenderjahres
(Veranlagungszeitraum) nach dem Einkommen veranlagt, das der
Steuerpflichtige in diesem Veranlagungszeitraum bezogen hat, soweit
nicht nach § 46 EStG eine Veranlagung unterbleibt.
Im Streitfall hat das FA eine Veranlagung
rechtmäßig durchgeführt. Da die Kläger trotz
Aufforderung (§ 149 Abs. 1 Satz 2 AO 1977) keine
Einkommensteuererklärungen abgegeben hatten, musste das FA
gemäß § 162 AO 1977 die Besteuerungsgrundlagen
schätzen. Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergab,
dass die Voraussetzungen für eine Veranlagung der Kläger
nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG vorlagen, weil die Summe der
einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, mehr als 800 DM
betrug. Folglich war das FA gemäß § 25 Abs. 1 EStG
verpflichtet, die Kläger zur Einkommensteuer zu veranlagen und
durch Erlass des (angefochtenen) Steuerbescheids die
Einkommensteuer festzusetzen. Die Veranlagung konnte nicht nach
§ 46 EStG unterbleiben.
2. Bei dieser Sachlage kommt es entgegen der
Auffassung des FG nicht darauf an, dass für die
Durchführung der Veranlagung nicht auch die Voraussetzungen
des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG erfüllt waren, weil die
Kläger innerhalb der Antragsfrist keinen wirksamen Antrag auf
Veranlagung gestellt hatten.
a) Die Auffassung der Vorinstanz, der
Einspruch der Kläger gegen den Schätzungsbescheid sei
nicht als Antrag auf Durchführung einer Veranlagung zu werten,
begegnet revisionsrechtlich allerdings keinen Bedenken. Der Antrag
ist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG bis zum
Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten
Kalenderjahrs durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu
stellen. Bei dem Einspruchsschreiben der Kläger handelte es
sich nicht um eine Einkommensteuererklärung.
b) Ein Antrag nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG
war im Streitfall für die (weitere) Durchführung des
Veranlagungsverfahrens indessen auch gar nicht (mehr) erforderlich.
Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus
nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug
vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter den in
§ 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten Voraussetzungen
durchgeführt. Die Antragsveranlagung gemäß §
46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist gegenüber den
Veranlagungstatbeständen aus § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7
EStG subsidiär. Der Steuerpflichtige kann die Veranlagung nach
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nur beantragen, wenn er nicht bereits
nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 EStG von Amts wegen zu
veranlagen ist (Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff,
EStG, § 46 Rdnr. A 5; Blümich/Heuermann, § 46 EStG
Rz. 4). Der Antrag nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist
verfahrensrechtlicher Natur. Er leitet nur das
Veranlagungsverfahren ein, mittels dessen die materiell
gemäß § 36 Abs. 1 EStG entstandene Einkommensteuer
ermittelt und festgesetzt wird (Blümich/Heuermann, § 46
EStG Rz. 113; Eisgruber in Kirchhof, EStG, 5. Aufl., § 46 Rn.
46). Nach der Konzeption der §§ 25, 46 EStG soll der
Antrag auf Durchführung der Veranlagung die Finanzbehörde
zu einem Handeln veranlassen, wenn sie nicht von sich aus
tätig werden muss. Der Veranlagungsantrag soll das
Veranlagungsverfahren in Gang setzen. Er macht den Erlass des
Einkommensteuerbescheids aber nicht antragsabhängig
(Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46
Rdnr. A 50).
Ausgehend hiervon bedarf es für die
Durchführung des Veranlagungsverfahrens keines Antrags des
Steuerpflichtigen nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG mehr, wenn das
FA das Veranlagungsverfahren von sich aus bereits durchgeführt
und Einkommensteuer durch Erlass eines Steuerbescheids (§ 155
Abs. 1 Satz 1 AO 1977) festgesetzt hat (a.A. Schmidt/Glanegger,
EStG, 25. Aufl., § 46 Rz. 87; FG Köln, Urteil vom
10.6.1999 1 K 448/96, EFG 1999, 1020, m.w.N.). Dies gilt jedenfalls
dann, wenn - wie im Streitfall - bei Erlass des Steuerbescheids die
Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen aus der
insoweit maßgeblichen Sicht des FA vorlagen. In einem solchen
Fall kann der Antrag auf Durchführung der Veranlagung seinen
Zweck, ein Veranlagungsverfahren in Gang zu setzen, nicht mehr
erreichen. Dabei ist die Frage der Durchführung der
Veranlagung grundsätzlich losgelöst von der - erst
später erkennbar gewordenen - inhaltlichen Unrichtigkeit des
Steuerbescheids zu beurteilen.
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG steht der vom
Steuerpflichtigen begehrten Festsetzung der materiell richtigen
Einkommensteuer nicht entgegen, wenn sich später nach Erlass
des Einkommensteuerbescheids herausstellt, dass die
Finanzbehörde zu Unrecht angenommen hat, sie müsse von
Amts wegen tätig werden und die Veranlagung durchführen.
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG verdrängt nicht die
Amtsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 EStG. Aufgabe
sowohl der Antrags- als auch der Amtsveranlagung nach § 46
EStG ist es, Unvollkommenheiten des ausschließlich auf die
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bezogenen
Lohnsteuerabzugsverfahrens auszugleichen und über die
Veranlagung die Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen
herzustellen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
13.12.1967 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1, BStBl II 1968, 70 = SIS 68 00 47; Nolde in Herrmann/Heuer/Raupach, § 46 EStG Anm. 7).
Dieser Gesetzeszweck gebietet eine Auslegung der Vorschrift, die
die Festsetzung der materiell richtigen Einkommensteuer
ermöglicht und sie nicht verhindert.
Die Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom
8.5.1979 VIII R 78/77 (BFHE 128, 210, BStBl II 1979, 676 = SIS 79 03 43) und vom 14.3.1989 I R 77/85 (BFH/NV 1991, 311) stehen dem
nicht entgegen. Zwar führt nach der Rechtsprechung des BFH
weder die Übersendung von Erklärungsvordrucken noch die
Aufforderung zur Abgabe von Steuererklärungen oder die
Festsetzung eines Zwangsgelds zur Erzwingung der
Einkommensteuererklärung zu einer Verlängerung der
Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG (vgl.
BFH-Urteile in BFHE 128, 210, BStBl II 1979, 676 = SIS 79 03 43,
und in BFH/NV 1991, 311). Darum geht es im Streitfall indessen
nicht. Denn im vorliegenden Fall hat das FA durch Erlass des von
den Klägern angefochtenen Einkommensteuerbescheids die
Veranlagung von Amts wegen bereits durchgeführt (§ 25
Abs. 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG).
Nichts anderes ergibt sich für den
Streitfall auch aus den BFH-Urteilen vom 8.4.1986 IX R 212/84 (BFHE
147, 122, BStBl II 1986, 790 = SIS 86 19 42) und vom 29.9.1988 IV R
217/85 (BFHE 155, 94, BStBl II 1989, 196 = SIS 89 04 56). Der BFH
hat dort ebenso wie in dem Urteil in BFH/NV 1991, 311 entschieden,
dass der Erlass eines Feststellungsbescheids gemäß
§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht zu einer Veranlagung von Amts
wegen führen soll und die Bindungswirkung eines
Grundlagenbescheids keine Ausweitung der in § 46 Abs. 2 Nr. 1
bis Nr. 8 EStG spezialgesetzlich geregelten
Veranlagungstatbestände des EStG zur Folge haben soll. Im
vorliegenden Fall ist indessen das Verhältnis zwischen
Grundlagen- und Folgebescheid nicht berührt. Das FA hat
vielmehr im Verfahren über die Veranlagung der Einkommensteuer
entschieden und die Veranlagung nach § 25 Abs. 3 i.V.m. §
46 Abs. 2 Nr. 1 EStG durchgeführt.
3. Da das FG von anderen Grundsätzen
ausgegangen ist, ist sein Urteil aufzuheben. Die Sache ist
spruchreif. Das FA hat die Einkommensteuerveranlagung für das
Streitjahr durchzuführen.
Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene
Frage der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
kommt es nach alledem nicht an.