Verböserungshinweis, Notwendigkeit: Der Hinweis auf eine Änderung zum Nachteil des Einspruchsführers ist nur dann - ausnahmsweise - entbehrlich, wenn eine erhöhte Steuerfestsetzung (Feststellung) auch nach Rücknahme des Einspruchs möglich gewesen wäre, wenn sich also die Verböserung durch Einspruchsrücknahme nicht hätte vermeiden lassen. Ist zweifelhaft, ob eine Änderung noch möglich ist, darf auf den Hinweis nicht verzichtet werden. - Urt.; BFH 22.3.2006, XI R 24/05; SIS 06 20 62
I. Die Beteiligten streiten darüber,
ob der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA - )
gegen den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) für
das Streitjahr 1989 eine Einspruchsentscheidung erlassen durfte,
ohne ihm zuvor durch einen Verböserungshinweis die
Möglichkeit gegeben zu haben, seinen Einspruch
zurückzunehmen.
Der Kläger war im Streitjahr 1989
Mitgesellschafter der Sozietät K/G/F. Der Kläger sowie
die beiden weiteren Gesellschafter G und F waren an der
Gesellschaft zu jeweils 1/3 beteiligt. Zum 31. Januar des
Streitjahrs 1989 schied der Gesellschafter F aus der Gesellschaft
aus. Die Gesellschaft setzte sich daraufhin zu diesem Datum
auseinander.
In der im Jahre 1991 abgegebenen
Feststellungserklärung für das Streitjahr 1989 wurde der
Gewinn der Gesellschaft insgesamt mit 776.335 DM erklärt; nach
der Erklärung sollte er sich wie folgt auf die Gesellschafter
verteilen:
laufender Gewinn
|
Gesellschafter
|
Gewinnanteil
|
Sonderbetriebs-
|
Gesamt
|
|
|
ausgaben
|
|
Kläger
|
./.
1.454 DM
|
196.237 DM
|
./.
197.691 DM
|
F
|
./.
1.454 DM
|
|
./.
1.454 DM
|
G
|
./.
1.454 DM
|
196.237 DM
|
./. 197.691 DM
|
Gesamt
|
|
|
./.
396.836 DM
|
Veräußerungsgewinn
|
|
Kläger
|
0 DM
|
F
|
1.173.171 DM
|
G
|
0 DM
|
gesamt
|
1.173.171 DM
|
Das FA stellte den Gewinn
erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung fest und gab den Feststellungsbescheid dem
gemeinsamen Empfangsbevollmächtigten G für den
Kläger und den Gesellschafter G sowie dem Gesellschafter F im
Wege der Einzelbekanntgabe bekannt.
Der Gesellschafter F legte gegen den
Bescheid Einspruch ein, über den das FA zunächst nicht
entschied. Im Anschluss an eine im Jahre 1995 begonnene
Außenprüfung erließ das FA im Jahre 1997 einen
Änderungsbescheid, mit dem es den Gesamtgewinn der
Sozietät zwar mit 776.335 DM der Höhe nach
unverändert beließ, aber die Verteilung des Gewinns auf
die Gesellschafter änderte; im Einzelnen enthielt der
Änderungsbescheid folgende Feststellungen:
laufender Gewinn
|
Gesellschafter
|
Gewinnanteil
|
Sonderbetriebs-
|
Gesamt
|
|
|
ausgaben
|
|
Kläger
|
./.
1.454 DM
|
59.254 DM
|
./.
60.708 DM
|
F
|
./.
1.454 DM
|
|
./.
1.454 DM
|
G
|
./.
1.454 DM
|
59.254 DM
|
./. 60.707 DM
|
Gesamt
|
|
|
./.
122.869 DM
|
Veräußerungsgewinn
|
|
Kläger
|
0 DM
|
F
|
899.204 DM
|
G
|
0 DM
|
Gesamt
|
899.204 DM
|
Das FA gab den Änderungsbescheid den
Gesellschaftern jeweils im Wege der Einzelbekanntgabe bekannt.
Gleichzeitig hob es den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Die
drei Gesellschafter legten Einsprüche gegen den
Änderungsbescheid ein. Der Kläger und der Gesellschafter
G begehrten mit ihren Einsprüchen für sich die jeweils
hälftige Hinzurechnung eines laufenden Verlusts in Höhe
von 396.836 DM. Der Gesellschafter F hingegen begehrte, keinen
Veräußerungsgewinn zugerechnet zu bekommen.
Noch während des Einspruchsverfahrens,
nämlich am 29.6.1999, wurde über das Vermögen des
Gesellschafters F das Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet.
Zum Gesamtvollstreckungsverwalter wurde der Beigeladene
bestellt.
Im Rahmen des Einspruchsverfahrens kam das
FA nunmehr zu der Auffassung, dem Gesellschafter F sei kein
Veräußerungsgewinn zuzurechnen. Das FA betrieb die
Einspruchsverfahren der drei Einspruchsführer unabhängig
voneinander. So hielt es den Schriftwechsel des Klägers und
des Gesellschafters G einerseits und des Gesellschafters F
andererseits getrennt und informierte die Einspruchsführer
untereinander nicht über den Verfahrensstand des jeweils
anderen Einspruchsverfahrens. Erst mit der Einspruchsentscheidung
verband es die Einsprüche zur gemeinsamen Entscheidung, setzte
den Gewinn der Gesellschaft von 776.335 DM auf 521.335,83 DM herab
und stellte die Besteuerungsgrundlagen wie folgt fest:
laufender Gewinn
|
Gesellschafter
|
Gewinnanteil
|
Sonderbetriebs-
|
Gesamt
|
|
|
ausgaben
|
|
Kläger
|
./.
1.454 DM
|
0 DM
|
./.
1.454 DM
|
F
|
./.
1.454 DM
|
0 DM
|
./.
1.454 DM
|
G
|
./.
1.454 DM
|
0 DM
|
./. 1.454 DM
|
gesamt
|
|
|
./.
4.362 DM
|
Veräußerungsgewinn
|
|
Kläger
|
262.849 DM
|
F
|
0 DM
|
G
|
262.849 DM
|
gesamt
|
525.698 DM
|
Das FA wies vor Erlass der
Einspruchsentscheidung keinen der Einspruchsführer auf eine
mögliche Verböserung hin. Auch fragte es nicht beim
Beigeladenen an, ob dieser das anhängige Einspruchsverfahren
aufnehme. Die Einspruchsentscheidung erging am 24.7.2000 und wurde
dem Beigeladenen sowie dem Kläger und dem Gesellschafter G
jeweils einzeln bekannt gegeben.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt;
die Entscheidung des FG ist in EFG 2005, 1740 = SIS 05 42 74
veröffentlicht. Das FA habe zu Unrecht über den Einspruch
des Klägers mit Einspruchsbescheid entschieden, ohne ihm zuvor
durch einen Verböserungshinweis die Möglichkeit zu geben,
den Einspruch zurückzuziehen. Nach § 367 Abs. 2 Satz 2
der Abgabenordnung (AO 1977) dürfe ein Verwaltungsakt auch zum
Nachteil des Einspruchsführers geändert werden, wenn
dieser auf die Möglichkeit einer verbösernden
Entscheidung hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden sei,
sich hierzu zu äußern.
Ausnahmsweise sei der unterbliebene Hinweis
auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung nach
§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 unschädlich, wenn der
angegriffene Steuerbescheid auch nach Rücknahme des Einspruchs
zum Nachteil des Einspruchsführers geändert werden
könne, z.B. weil er unter dem Vorbehalt der Nachprüfung
(§ 164 Abs. 1 AO 1977) stehe. Nachdem der Vorbehalt der
Nachprüfung aufgehoben worden sei, hätte sich der
Kläger durch die Rücknahme seines Einspruchs einer
Änderung des Bescheids zu seinem Nachteil entziehen
können.
Allerdings hätte das FA den
Kläger zum Verfahren „hinzuziehen“ können.
Tatsächlich habe jedoch das FA von dieser Möglichkeit
keinen Gebrauch gemacht und den Kläger nicht zu den
Einspruchsverfahren der anderen Gesellschafter hinzugezogen. Im
Streitfall komme die Besonderheit hinzu, dass das FA das
Einspruchsverfahren des Gesellschafters F solange nicht habe weiter
betreiben dürfen, bis der Gesamtvollstreckungsverwalter das
Einspruchsverfahren aufgenommen habe, was nicht geschehen sei. Eine
Hinzuziehung zum Einspruchsverfahren des Gesellschafters G
wäre hingegen grundsätzlich möglich gewesen.
Allerdings hätte diese Hinzuziehung und Änderung zum
Nachteil an der Einspruchsrücknahme dieses Gesellschafters
scheitern können.
Mit der Revision macht das FA geltend: Das
angefochtene Urteil verletze § 360 AO 1977. Eine
Verböserung liege nicht vor. Der Gesamtgewinn sei von 776.335
DM auf 521.335 DM herabgesetzt worden. Auf diese Problematik gehe
das angefochtene Urteil nicht ein. - Alle Feststellungsbeteiligten
seien Einspruchsführer gewesen. Eine weitere Hinzuziehung sei
nicht zulässig gewesen. - Eine verbösernde Entscheidung
sei weder durch die unzulässige Fortsetzung des
Einspruchsverfahrens gegen den Gesellschafter F noch durch die
unterlassenen Verböserungshinweise gegenüber dem
Gesellschafter G und dem Kläger erreicht worden. Seien alle
Feststellungsbeteiligten Einspruchsführer, müsse ihnen
gegenüber einheitlich entschieden werden. Zögen einzelne
Einspruchsführer ihren Einspruch zurück, könnten sie
zum Verfahren hinzugezogen werden; dann könnte auch ihnen
gegenüber eine verbösernde Entscheidung ergehen.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
Inhaltlich sei von einer verbösernden
Entscheidung auszugehen; § 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 stelle
auf den Einspruchsführer ab. Die Stellung des Hinzugezogenen
sei akzessorisch; diesem gegenüber sei eine verbösernde
Entscheidung möglich, ohne dass ihm gegenüber die
Verböserungsfolgen vorher darzulegen seien. Es sei nicht
nachvollziehbar, warum eine Hinzuziehung nicht mehr möglich
gewesen sein sollte.
II. Die Revision des FA ist gemäß
§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als
unbegründet zurückzuweisen. Das FG hat die
Einspruchsentscheidung vom 24.7.2000 zu Recht aufgehoben, weil das
FA den Kläger nicht zuvor auf die Möglichkeit einer
verbösernden Entscheidung hingewiesen hatte.
1. Die Unterbrechung des
Gewinnfeststellungsverfahrens einer Personengesellschaft
(Mitunternehmerschaft) ist auf die Feststellung des Gewinns
beschränkt, der auf den in Konkurs/Insolvenz gefallenen
Gesellschafter entfällt; der Fortgang dieses Verfahrens gegen
die übrigen Gesellschafter ist nicht gehindert (Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24.8.2004 VIII R 14/02, BFHE 207, 10,
BStBl II 2005, 246 = SIS 05 01 83). Das Gleiche gilt für das
außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren (BFH-Urteil vom
2.7.1997 I R 11/97, BFHE 183, 365, BStBl II 1998, 428 = SIS 98 02 74, m.w.N.). Der I. Senat hat diese Rechtsprechung für die
Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestätigt (BFH-Urteil
vom 18.12.2002 I R 33/01, BFHE 201, 392, BStBl II 2003, 630 = SIS 03 23 23).
2. Gemäß
§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 kann ein Verwaltungsakt auch zum
Nachteil des Einspruchsführers geändert werden, wenn
dieser auf die Möglichkeit einer verbösernden
Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm
Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu
äußern.
a) In der Einspruchsentscheidung hat das FA
die den Kläger betreffenden Feststellungen verbösert.
Dabei ist entgegen der Auffassung des FA nicht darauf abzustellen,
dass die festgestellten Besteuerungsgrundlagen insgesamt in der
Höhe herabgesetzt wurden. § 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977
stellt auf den „Nachteil des
Einspruchsführers“ ab, aber nicht auf den
Gesamtgewinn einer Mitunternehmerschaft; anderenfalls wäre es
einem Einspruchsführer u.U. nicht möglich, einer
verbösernden Entscheidung auszuweichen. Entscheidend ist
daher, dass der Gewinnanteil des Klägers erhöht wurde.
Waren zunächst für den Kläger ein laufender Verlust
von 60.708 DM und ein Veräußerungsgewinn von 0 DM
festgestellt worden, so wurden in der Einspruchsentscheidung
für den Kläger ein laufender Verlust von 1.454 DM und ein
Veräußerungsgewinn von 262.849 DM festgestellt.
b) Auf diese Verböserung ist der
Kläger nicht hingewiesen worden. Ein Hinweis wäre nur
dann - ausnahmsweise - entbehrlich gewesen, wenn eine erhöhte
Steuerfestsetzung (Feststellung) auch nach Rücknahme des
Einspruchs möglich gewesen wäre, wenn sich also die
Verböserung durch Einspruchsrücknahme nicht hätte
vermeiden lassen (vgl. BFH-Urteile vom 10.11.1989 VI R 124/88, BFHE
159, 405, BStBl II 1990, 414 = SIS 90 10 54; vom 21.8.1996 I R
75/95, BFH/NV 1997, 314 = SIS 97 10 29; vom 12.7.2005 II R 10/04,
BFH/NV 2006, 228 = SIS 06 07 25; Pahlke/Koenig/Pahlke,
Abgabenordnung, § 367 Rz. 33).
c) Diese Möglichkeit war dem FA nicht
gegeben.
aa) Der ursprünglich angebrachte
Vorbehalt der Nachprüfung ist nach der Außenprüfung
mit dem Änderungsbescheid vom 14.8.1997 aufgehoben worden.
Nach Rücknahme des Einspruchs wäre eine Änderung
nach § 164 Abs. 2 AO 1977 nicht möglich gewesen.
bb) Die Möglichkeit, den Kläger nach
Einspruchsrücknahme zu den Einspruchsverfahren des
Gesellschafters F und des Gesellschafters G gemäß §
360 Abs. 3 AO 1977 hinzuzuziehen und über diesen Weg eine
verbösernde Änderung zu Lasten des Klägers zu
bewirken (dazu Pahlke/Koenig/Pahlke, a.a.O., § 367 Rz. 25),
kann nicht als eine der Änderungsmöglichkeit des §
164 Abs. 2 AO 1977 vergleichbare Möglichkeit anerkannt werden.
Im Hinblick auf die Akzessorietät der Hinzuziehung kann das FA
nicht unbeschränkt ändern, sondern seine
Änderungsmöglichkeit ist davon abhängig, dass der
jeweilige Einspruchsführer seinen Einspruch
aufrechterhält (Pahlke/Koenig/Pahlke, a.a.O., § 360 Rz.
40). Ob bei Einspruchsrücknahme eine Verböserung noch
möglich gewesen wäre, war im Streitfall nicht sicher;
eine solche Möglichkeit lag jedenfalls nicht allein in den
Händen des FA, da auch die einspruchsführenden
Mitgesellschafter (bzw. der für sie handelnde Verwalter) ihre
Einsprüche hätten zurücknehmen können. Das
Unterlassen des Hinweises muss die Ausnahme bleiben. Ist
zweifelhaft, ob eine Änderung noch möglich ist, darf auf
den Hinweis nicht verzichtet werden. Das FA hätte daher vor
Erlass der verbösernden Einspruchsentscheidung den Kläger
- wie es das Gesetz vorsieht - unter Angabe von Gründen auf
die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung hinweisen
müssen.
Der unterlassene Verböserungshinweis
gebietet die Aufhebung der Einspruchsentscheidung, so dass das FA
den Hinweis nachholen und der Kläger ggf. seinen Einspruch
zurücknehmen kann.