1
|
I. Die Beteiligten streiten um die
Berücksichtigung von Verlusten aus
Spekulationsgeschäften.
|
|
|
2
|
Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind Eheleute und wurden im Streitjahr 1992 zusammen
zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin war u.a.
Gesellschafterin einer vermögensverwaltenden Gesellschaft des
bürgerlichen Rechts (GbR). Die GbR erzielte im Streitjahr
Verluste aus Spekulationsgeschäften (nunmehr: privaten
Veräußerungsgeschäften). Am 8.12.1994 wurde ein
Feststellungsbescheid für 1992 erlassen, in dem der
Klägerin u.a. ein Verlust aus Spekulationsgeschäften in
Höhe von 583.967 DM zugewiesen wurde. Dieser Bescheid wurde
bestandskräftig, stand jedoch unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung. Im daraufhin ergangenen (erstmaligen)
Einkommensteuerbescheid 1992 vom 20.3.1995 blieb der Verlust im
Hinblick auf die Vorschrift des § 23 Abs. 4 Satz 3 des
Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Streitjahres (EStG)
unberücksichtigt. Auch dieser Bescheid wurde - ebenso wie
nachfolgende Änderungsbescheide - bestandskräftig, stand
jedoch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Mit
Einkommensteuerbescheid vom 20.11.2000 wurde der Vorbehalt der
Nachprüfung aufgehoben. Dieser Bescheid wurde nicht mit dem
Einspruch angefochten und damit bestandskräftig. Die
Einkommensteuer wurde auf 681.380 DM festgesetzt.
|
|
|
3
|
Am 27.10.2000 erließ das für die
GbR zuständige Feststellungsfinanzamt einen geänderten
Feststellungsbescheid für 1992, in dem für die
Klägerin ein Verlust aus Spekulationsgeschäften in
Höhe von 588.378 DM enthalten war. Die entsprechende
Mitteilung ging am 6.11.2000 beim Beklagten und Revisionsbeklagten
(Finanzamt - FA - ) ein. Dieses wertete die Mitteilung dahingehend
aus, dass es am 1.3.2001 einen geänderten
Einkommensteuerbescheid für 1992 erließ, den
Spekulationsverlust aber weiterhin nicht berücksichtigte. Die
Einkommensteuer wurde auf 617.928 DM (./. 63.452 DM)
festgesetzt.
|
|
|
4
|
Die Kläger legten gegen den
geänderten Einkommensteuerbescheid 1992 Einspruch ein. Sie
machten geltend, dass die Einschränkung der Verrechnung von
Verlusten aus Spekulationsgeschäften nach § 23 Abs. 4
Satz 3 EStG verfassungswidrig sei. Das Einspruchsverfahren ruhte
zunächst. Nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) in der Folgezeit
entschieden hatte, dass Spekulationsverluste aus den Jahren vor
1999 grundsätzlich uneingeschränkt ausgleichsfähig
sind (vgl. BFH-Urteil vom 1.6.2004 IX R 35/01, BFHE 206, 273, BStBl
II 2005, 26 = SIS 04 23 56), erließ das FA am 2.7.2010 einen
geänderten Einkommensteuerbescheid für 1992, in dem es
einen Spekulationsverlust in Höhe von 4.413 DM
berücksichtigte. Eine weitergehende Berücksichtigung des
Spekulationsverlusts unterblieb. Die Einkommensteuer wurde auf
615.590 DM festgesetzt. Der Einspruch wurde anschließend mit
Einspruchsentscheidung vom 22.7.2010 im Übrigen als
unbegründet zurückgewiesen.
|
|
|
5
|
Die dagegen erhobene Klage, mit der die
Kläger den Ansatz der Spekulationsverluste in voller Höhe
begehrten, blieb erfolglos.
|
|
|
6
|
Mit ihrer Revision berufen sich die
Kläger auf die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids
gegenüber dem Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr.
1 der Abgabenordnung (AO). Die Vorschrift begründe eine
absolute und zwingende Anpassungsverpflichtung, die so weit reiche,
wie es die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids verlange. Der
geänderte Grundlagenbescheid habe den ursprünglichen
Grundlagenbescheid in sich aufgenommen und diesen suspendiert. Die
Pflicht zur Änderung richte sich daher allein nach dem
geänderten Grundlagenbescheid.
|
|
|
7
|
Die Kläger beantragen,
|
|
|
8
|
das Urteil des Finanzgerichts (FG)
Köln vom 20.6.2013 aufzuheben und unter Abänderung des
Einkommensteuerbescheids für 1992 von 1.3.2001, geändert
durch Bescheid vom 2.7.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung
vom 22.7.2010 die Einkommensteuer für 1992 unter
Berücksichtigung von Spekulationsverlusten in Höhe von
588.378 DM festzusetzen.
|
|
|
9
|
Das FA beantragt,
|
|
|
10
|
die Revision zurückzuweisen.
|
|
|
11
|
Das FA weist darauf hin, dass die
Spekulationsverluste im erstmaligen Einkommensteuerbescheid
vollumfänglich vom Grundlagen- in den Folgebescheid
übernommen worden seien und damit der Anpassungsverpflichtung
nachgekommen worden sei. Die Verluste hätten sich im
erstmaligen Einkommensteuerbescheid aufgrund der
Verlustausgleichbeschränkung nicht ausgewirkt. Die Frage des
beschränkten oder unbeschränkten Verlustausgleichs sei
nicht vom Regelungsgehalt des Grundlagenbescheids erfasst. Die
Entscheidung des BFH über die uneingeschränkte
Ausgleichsfähigkeit der Spekulationsverluste könne sich
nur in den zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht
bestandskräftigen Bescheiden auswirken. Zudem habe im
Zeitpunkt der Auswertung des ersten Grundlagenbescheids die
Versagung des Verlustausgleichs der geltenden Rechtslage
entsprochen und der erstmalige Folgebescheid sei daher aus
damaliger Sicht rechtmäßig gewesen. Auch wenn der
erstmalige Folgebescheid nunmehr rückblickend fehlerhaft
erscheine, sei er doch bestandskräftig und nicht mehr zu
ändern.
|
|
|
12
|
II. Die Revision ist begründet. Die
Vorentscheidung ist aufzuheben und die Sache an das FG zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung).
|
|
|
13
|
Das FG hat nicht weiter geprüft, ob der
geänderte Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 zugleich eine
Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung enthielt und damit
nach § 164 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz, § 181 Abs. 1 Satz 1
AO wie eine erstmalige Feststellung der Einkünfte aus
Spekulationsgeschäften zu werten ist. In diesem Fall sind die
Besteuerungsgrundlagen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO in
vollem Umfang und ohne Bindung an in der Vergangenheit bereits
erfolgte Übernahmen aus vorangegangenen
Feststellungsbescheiden in den - mit dem Einspruch angefochtenen -
Folgebescheid vom 1.3.2001 und damit auch in den an seine Stelle
tretenden Folgebescheid vom 2.7.2010 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 22.7.2010 zu übernehmen.
|
|
|
14
|
1. Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist
ein Steuerbescheid (Folgebescheid) zu erlassen, aufzuheben oder zu
ändern, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung
für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder
geändert wird. Grundlagenbescheid ist nach § 171 Abs. 10
Satz 1 AO auch ein Feststellungsbescheid, soweit er für die
Festsetzung einer Steuer bindend ist. Feststellungsbescheide
(Grundlagenbescheide) sind u.a. für Steuerbescheide
(Folgebescheide) bindend, soweit in ihnen getroffene Feststellungen
für diese Folgebescheide von Bedeutung sind (§ 182 Abs. 1
Satz 1 AO).
|
|
|
15
|
a) Die Bindungswirkung ergibt sich nach Inhalt
und Umfang aus den „getroffenen Feststellungen“
(Verfügungssätze), also dem Regelungsteil des
Feststellungsbescheids. Im Umfang der in § 182 Abs. 1 Satz 1
AO festgelegten Bindungswirkung („soweit“) des
Feststellungsbescheids (Grundlagenbescheids) folgt aus § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO („ist“) eine absolute
Anpassungspflicht in Bezug auf davon betroffene Steuerbescheide als
Folgebescheide (vgl. BFH-Urteil vom 29.2.2012 IX R 21/10, BFH/NV
2012, 1297 = SIS 12 18 95, unter II.1., m.w.N.).
|
|
|
16
|
b) § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO
lässt jedoch keine uneingeschränkte
Aufhebung/Änderung des Folgebescheids zu, sondern nur eine der
Bindungswirkung entsprechende Anpassung an den erlassenen,
aufgehobenen oder geänderten Grundlagenbescheid. Die Aufgabe,
den Folgebescheid an den Grundlagenbescheid anzupassen,
rechtfertigt keine Wiederaufrollung der gesamten Steuerveranlagung;
sie reicht nur so weit, wie es die Bindungswirkung des
Grundlagenbescheids verlangt (BFH-Urteil vom 7.5.2008 X R 21/05,
BFH/NV 2008, 1436 = SIS 08 31 51, unter II.1.b; Beschluss vom
24.9.2008 I B 28/08, BFH/NV 2009, 117 = SIS 09 02 22, unter II.1.).
Der Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines
Grundlagenbescheids darf deshalb nicht zum Anlass genommen werden,
für den Folgebescheid bedeutsame Besteuerungsgrundlagen zu
ändern, wegzulassen oder erstmals aufzunehmen, die weder
Gegenstand des Grundlagenbescheids sind noch durch seinen
Regelungsinhalt beeinflusst werden. Ändert zudem ein
Grundlagenbescheid einen bereits vollständig im Folgebescheid
umgesetzten Grundlagenbescheid, so greift die
Änderungsbefugnis nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nur
ein, „soweit“ der geänderte
Feststellungsbescheid vom Regelungsgehalt über den bisherigen
Grundlagenbescheid hinausgeht. Die Anpassungspflicht hinsichtlich
des Folgebescheids reicht in diesem Fall auch nur so weit, wie der
geänderte Grundlagenbescheid den bisherigen Grundlagenbescheid
ändert. Denn nur insoweit wurde nach dem Wortlaut der
Vorschrift der vorangegangene Grundlagenbescheid
„aufgehoben oder geändert“ (vgl. Söhn
in Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 182 AO Rz 53;
Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, §
175 AO Rz 11; v. Wedelstädt in Beermann/ Gosch, AO § 175
AO Rz 28; BFH-Urteil vom 29.6.2005 X R 31/04, BFH/NV 2005, 1749 =
SIS 05 40 15, unter 1.b). § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO kann
eine Änderung des Folgebescheids somit nicht bewirken, soweit
der (geänderte) Grundlagenbescheid bezogen auf seinen Inhalt
für den Folgebescheid nur mehr als
„Wiederholung“ zu werten ist (vgl. BFH-Urteile
vom 13.12.2000 X R 42/96, BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471 = SIS 01 10 39, unter II.2.b, und BFH/NV 2008, 1436 = SIS 08 31 51, unter
II.1.b a.E.; Söhn in HHSp, § 182 AO Rz 50a; v. Groll in
HHSp § 175 Rz 169, 172; Pahlke/Koenig/ Koenig, Abgabenordnung,
2. Aufl., § 175 Rz 12).
|
|
|
17
|
c) Die Bindungswirkung ist jedoch
unbeschränkt, wenn der geänderte Feststellungsbescheid
zugleich eine Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nach
§ 164 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz AO enthält. Nach dieser
Vorschrift gilt der geänderte Feststellungsbescheid als
erstmalige Feststellung und damit als erstmalige
Einzelfallregelung, der kein bloß wiederholender Charakter
zuzumessen ist. Die durch die Aufhebung des Vorbehalts der
Nachprüfung entstandene Bindungswirkung umfasst folglich den
gesamten Grundlagenbescheid. Das gilt auch dann, wenn der Vorbehalt
der Nachprüfung des Grundlagenbescheids aufgehoben wird, ohne
dass eine sachliche Änderung des Grundlagenbescheids erfolgt
(vgl. BFH-Urteil in BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471 = SIS 01 10 39, unter II.2.b aa; BFH-Beschluss vom 11.4.1995 III B 74/92,
BFH/NV 1995, 943; Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl.,
§ 175 Rz 14; a.A. v. Groll in HHSp, § 175 AO Rz 169). Auf
die Frage, ob und in welchem Umfang Besteuerungsgrundlagen aus
vorangegangenen (bestandskräftigen) Feststellungsbescheiden
bereits in (bestandskräftigen) Folgebescheiden umgesetzt
worden waren, kommt es in diesem Fall nicht an.
|
|
|
18
|
2. An diesen Maßstäben gemessen
kommt es somit entscheidungserheblich darauf an, ob mit dem
geänderten Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 zugleich ein
im Feststellungsverfahren noch geltender Vorbehalt der
Nachprüfung aufgehoben wurde oder nicht. Wäre mit dem
geänderten Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 zugleich ein
im Feststellungsverfahren noch geltender Vorbehalt der
Nachprüfung nach § 164 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz, §
181 Abs. 1 AO aufgehoben worden, würde hinsichtlich des
Folgebescheids vom 1.3.2001 und damit auch des an dessen Stelle
getretenen Folgebescheids vom 2.7.2010 nach § 175 Abs. 1 Satz
1 Nr. 1 AO eine umfassende Anpassungsverpflichtung an dem gesamten,
im geänderten Feststellungsbescheid enthaltenden
Regelungsinhalt gelten. Wäre mit dem geänderten
Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 hingegen nicht zugleich ein im
Feststellungsverfahren noch geltender Vorbehalt der
Nachprüfung aufgehoben worden, sondern war bereits der
vorangegangene Feststellungsbescheid vom 8.12.1994 endgültig,
hätte das FG zu Recht eine weitergehende Änderung des
Einkommensteuerbescheids für 1992 vom 2.7.2010 abgelehnt und
zutreffend im angefochtenen Einkommensteuerbescheid lediglich
Spekulationsverluste in Höhe von 4.413 DM - rechnerisch 4.411
DM - zur Verrechnung zugelassen. Denn in diesem Fall wären
aufgrund des erstmaligen Feststellungsbescheids vom 8.12.1994 im
Rahmen der Einkommensteuerveranlagung 1992 bereits
Spekulationsverluste in Höhe von 583.967 DM nach § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 182 Abs. 1 Satz 1 AO in die
Einkommensteuerveranlagung der Kläger übernommen worden,
hätten sich dort aber aufgrund der Anwendung des
Verlustausgleichsverbots in § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG nicht
ausgewirkt. Die Übernahme von - aufgrund der geänderten
Rechtslage nunmehr ausgleichsfähigen -
Spekulationseinkünften in Höhe von 588.378 DM in der
Folge des geänderten Feststellungsbescheids vom 27.10.2000
könnte in diesem Fall daher nur in Höhe des
Änderungsumfangs von 4.413 DM erfolgen. Denn soweit der
geänderte Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 negative
Einkünfte aus Spekulationsgeschäften in Höhe von
583.967 DM bindend feststellt, handelt es sich in diesem Fall nur
um eine wiederholende Feststellung, die bereits im Bescheid vom
8.12.1994 enthalten war und die daher keine (erneute)
Anpassungspflicht begründen kann (vgl. BFH-Urteile in BFHE
194, 305, BStBl II 2001, 471 = SIS 01 10 39, unter II.2.b, und in
BFH/NV 2008, 1436 = SIS 08 31 51, unter II.1.b a.E.).
|
|
|
19
|
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat
keine Feststellungen zu der Frage getroffen, ob der geänderte
Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 zugleich eine Aufhebung des
Vorbehalts der Nachprüfung enthielt und damit nach § 164
Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz, § 181 Abs. 1 Satz 1 AO wie eine
erstmalige Feststellung der Einkünfte aus
Spekulationsgeschäften zu werten ist. Dies hat das FG durch
eine Auswertung der Mitteilungen über die gesonderte und
einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen und eine
Beiziehung der Akten des Feststellungsverfahrens nachzuholen.
|