Steuergesetz, Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch BVerfG, Änderung: 1. Die Änderung eines Steuerbescheids wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen gemäß § 173 AO kommt nicht in Betracht, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen nicht anders hätte entscheiden können. - 2. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes durch das BVerfG ist keine Tatsache i.S. von § 173 AO. - Urt.; BFH 12.5.2009, IX R 45/08; SIS 09 29 11
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger), zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Ehegatten,
wurden für das Streitjahr 1998 u.a. wegen Einkünften aus
Spekulationsgeschäften in Höhe von 30.816 DM
(Kläger) und 3.378 DM (Klägerin) - zuletzt mit
Änderungsbescheid vom 15.5.2001 - bestandskräftig zur
Einkommensteuer veranlagt. Im Juni 2004 beantragten die Kläger
die Änderung dieses Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr.
2 der Abgabenordnung (AO), da das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
die Besteuerung von Spekulationsgewinnen mit Urteil vom 9.3.2004 in
den Jahren 1997 und 1998 für verfassungswidrig erklärt
habe. Da die Erklärung im Jahr 2000 eingereicht worden sei,
sei die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Der gegen die
Zurückweisung des Antrags erhobene Einspruch blieb ohne
Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) hat in seinem in EFG
2008, 1593 = SIS 08 37 11 veröffentlichten Urteil der Klage
stattgegeben. Zwar sei die Feststellung der Verfassungswidrigkeit
eines Gesetzes durch das BVerfG keine neue Tatsache i.S. von §
173 AO, wohl aber das vom BVerfG hinsichtlich des § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes in der im
Streitjahr anzuwendenden Fassung (EStG) festgestellte Vollzugs-
bzw. Erhebungsdefizit. Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) hätte bei ursprünglicher Kenntnis
dieses Vollzugsdefizits den angefochtenen Bescheid nicht erlassen
dürfen. Das BVerfG habe ein Vollzugsdefizit und damit eine
Tatsache festgestellt, die letztlich dazu geführt habe, dass
§ 23 EStG nichtig sei. Bei § 173 AO handele es sich um
eine besondere gesetzliche Regelung i.S. von § 79 Abs. 2 des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG).
Hiergegen richtet sich die Revision des FA,
mit der dieses die Verletzung materiellen Rechts rügt.
Insbesondere liege keine neue Tatsache vor. Die Feststellung der
Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm sei dem BVerfG vorbehalten;
solange es eine verfassungskonform zustande gekommene Norm nicht
für verfassungswidrig erkläre, sei diese
anzuwenden.
Das FA beantragt, das Urteil des FG
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der finanzgerichtlichen Entscheidung und
zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Zu Unrecht hat das FG das vom
BVerfG im Urteil vom 9.3.2004 2 BvL 17/02 (BVerfGE 110, 94, BStBl
II 2005, 56 = SIS 04 13 59) festgestellte Vollzugsdefizit bei der
Besteuerung von Spekulationsgewinnen in den
Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 als eine Tatsache i.S.
von § 173 AO qualifiziert und eine Verpflichtung des FA
angenommen, den Einkommensteuerbescheid 1998 nach § 173 Abs. 1
Nr. 2 AO zu ändern.
1. Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1
Nr. 2 AO liegen im Streitfall nicht vor.
a) Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO
sind Steuerbescheide u.a. zu ändern, soweit Tatsachen
nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer
führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran
trifft, dass die Tatsachen erst nachträglich bekannt werden.
Ein Steuerbescheid darf aber nicht wegen nachträglich bekannt
gewordener Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen geändert
werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen
nicht anders entschieden hätte. Eine Änderung nach §
173 Abs. 1 AO scheidet daher aus, wenn die Unkenntnis der
später bekannt gewordenen Tatsache für die
ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich
(rechtserheblich) gewesen ist (ständige Rechtsprechung, z.B.
Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15.3.2007 III R 57/06,
BFH/NV 2007, 1461 = SIS 07 23 83; vom 19.10.2006 III R 31/06,
BFH/NV 2007, 392 = SIS 07 06 54; BFH-Beschluss vom 10.10.2007 VI B
48/06, BFH/NV 2008, 191 = SIS 08 07 52, m.w.N.). Rechtfertigender
Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173
AO ist nicht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung, sondern der
Umstand, dass das FA bei seiner Entscheidung von einem
unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Eine
nachträgliche Berücksichtigung neuer Tatsachen ist zu
unterscheiden von der Korrektur von Rechtsfehlern. Über den
Umweg des § 173 Abs. 1 AO dürfen solche weder zu Lasten
noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen berichtigt werden. Diesem
Kriterium der Rechtserheblichkeit trägt auch § 79 Abs. 2
BVerfGG Rechnung, wonach selbst die Verfassungswidrigkeit eines
Gesetzes zur Durchbrechung von Rechts- und Bestandskraft
regelmäßig nicht ausreicht.
b) Diesen Grundsätzen entspricht das
FG-Urteil nicht.
aa) Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit
von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG durch das BVerfG
stellt, wovon auch das FG zutreffend ausgeht, keine neue Tatsache
i.S. von § 173 AO dar, sondern hat Gesetzeskraft (§ 31
Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
bb) Auch bei der Feststellung des Vollzugs-
bzw. Erhebungsdefizits hat das BVerfG in seinem Urteil in BVerfGE
110, 94, BStBl II 2005, 56 = SIS 04 13 59 auf den Widerspruch
zwischen dem normativen Befehl der materiell
pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung
angelegten Erhebungsregel abgestellt. Zur Gleichheitswidrigkeit
führt danach nicht ohne weiteres die empirische Ineffizienz
von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit des
widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts. Das
festgestellte Vollzugs- und Erhebungsdefizit ist danach normativer,
nicht tatsächlicher Art.
cc) Zudem hätte das FA auch bei Kenntnis
des Vollzugsdefizits für Spekulationsgewinne keine andere
Entscheidung treffen dürfen. Vielmehr hätte es bis zur
Entscheidung des BVerfG § 23 EStG anwenden müssen.
Gemäß Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) sind alle
Rechtsnormen, jedenfalls soweit es nicht offensichtlich an den
Mindestvoraussetzungen ihrer Wirksamkeit fehlt, bis zu ihrer
Aufhebung durch das zuständige Rechtsetzungsorgan oder bis zu
einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung als gültig zu
behandeln (Sommermann, in: v. Mangold/ Klein/Stark, GG II, 5.
Aufl., Art. 20 Abs. 3 Rz 271, m.w.N.). Das Verwerfungsmonopol kommt
insoweit gemäß Art. 100 Abs. 1 GG allein dem BVerfG zu.
Ein formelles nachkonstitutionelles Gesetz wie § 23 EStG
verliert seine Bindungswirkung gegenüber der Exekutive
(Administrative) i.S. von Art. 20 Abs. 3 GG erst, wenn seine
Nichtigkeit durch das BVerfG festgestellt wurde. Nur dies
entspricht auch § 79 Abs. 2 BVerfGG.
2. Im Streitfall sind auch keine anderen
Korrekturvorschriften einschlägig.
§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO war bei
Erlass des angegriffenen Steuerbescheides nicht einschlägig,
da die Vereinbarkeit von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b
EStG mit dem Grundgesetz erst durch den Vorlagebeschluss des BFH
vom 16.7.2002 IX R 62/99 (BFHE 199, 451, BStBl II 2003, 74 = SIS 03 01 47) Gegenstand eines Verfahrens vor dem BVerfG wurde.
Die Entscheidung des BVerfG stellt auch,
worauf das FG zutreffend verweist, kein rückwirkendes Ereignis
i.S. von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO dar (ständige
Rechtsprechung, BFH-Urteil vom 21.3.1996 XI R 36/95, BFHE 179, 563,
BStBl II 1996, 399 = SIS 96 13 26).