Auf die Revision des Klägers wird das
Urteil des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 14.12.2021 - 3
K 95/21 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht
Mecklenburg-Vorpommern zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten des Verfahrens übertragen.
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I. Streitig sind die
Rechtmäßigkeit von Zinsbescheiden zur Rückforderung
von Investitionszulagen für die Kalenderjahre 2006 bis 2008
und die Zahlungsverjährung der Zinsansprüche.
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Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) war bis zum 28.02.2009 in A, im
Zuständigkeitsbereich des Finanzamts K, danach bis zum
30.09.2010 in B, im Zuständigkeitsbereich des Finanzamts R,
und ab dem 01.10.2010 in C (Ausland) gemeldet. Seitdem wird der
Kläger als beschränkt einkommensteuerpflichtig beim
Finanzamt S geführt.
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Der Kläger beantragte beim Finanzamt K
am 20.02.2008 für das Kalenderjahr 2006 und 2007 sowie am
14.03.2009 für 2008 die Gewährung von Investitionszulagen
nach dem Investitionszulagengesetz 2007 (InvZulG 2007) für ein
Erstinvestitionsvorhaben. Das Finanzamt K gewährte die
Investitionszulagen jeweils unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung.
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Nachdem der Kläger sein Gewerbe zum
01.04.2011 abgemeldet hatte, änderte das Finanzamt K am
11.11.2011 die Bescheide über die Investitionszulagen für
2006, 2007 und 2008 nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO)
und setzte die Investitionszulage jeweils auf 0 EUR sowie Zinsen
nach § 11 InvZulG 2007 in Höhe von xx EUR, xx EUR und xx
EUR fest, welche jeweils zum 16.01.2012 fällig waren. Gegen
diese Bescheide legte der Kläger am 06.12.2011 Einspruch ein
und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Das Finanzamt
K lehnte die AdV mit Bescheid vom 19.12.2011 ab. Einen weiteren
AdV-Antrag des Klägers lehnte das Finanzamt K am 09.03.2012
ab. Dagegen legte der Kläger am 19.03.2012 Einspruch ein. Mit
Bescheid vom 30.04.2012 gewährte das Finanzamt K die
beantragte AdV bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der
Einspruchsentscheidung. Das Finanzamt K gab die Bearbeitung der
Einsprüche mit Schreiben vom 24.06.2014 an den Beklagten und
Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA - ) ab. Das FA wies die zur
gemeinsamen Entscheidung verbundenen Einsprüche am 21.01.2015
als unbegründet zurück und gab dem Kläger die
Entscheidung mit einfacher Post an seine Anschrift in C bekannt.
Mit Schreiben vom 16.04.2015 beantragte der Kläger beim FA
erneut AdV. Über diesen Antrag hat das FA nicht
entschieden.
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Mit seiner am 19.03.2015 erhobenen Klage
wandte sich der Kläger gegen die Änderung der
Investitionszulagenbescheide und gegen die Zinsbescheide. Das
Finanzgericht (FG) verhandelte am 24.03.2021 mündlich zur
Sache. Nach der Erörterung der Sach- und Rechtslage trennte es
das die Zinsbescheide betreffende Verfahren in der mündlichen
Verhandlung ab (3 K 95/21). Am gleichen Tag verkündete das FG
das Urteil im Verfahren 3 K 103/15, mit dem es die die
Investitionszulagenbescheide betreffende Klage abwies. Mit dem in
der mündlichen Verhandlung erklärten Einverständnis
der Beteiligten ruhte das abgetrennte Verfahren gemäß
Beschluss vom 06.04.2021 bis zum Abschluss des beim
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfahrens 1 BvR
2237/14. Nachdem das BVerfG am 08.07.2021 = SIS 21 14 23
entschieden hatte, übertrug das FG nach Anhörung der
Beteiligten den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27.10.2021 auf den
Einzelrichter. Dieser wies die Klage gegen die Zinsbescheide am
14.12.2021 ab. Das Urteil ist in EFG 2024, 1225
veröffentlicht.
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Dagegen wendet sich der Kläger mit der
vom Senat zugelassenen Revision. Er macht geltend, das FG sei bei
seiner Entscheidung fehlerhaft besetzt gewesen, und rügt die
Verletzung materiellen Rechts, insbesondere von § 231
AO.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des FG vom 14.12.2021 - 3 K
95/21 und die Zinsbescheide vom 11.11.2011, alle in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 21.01.2015, aufzuheben.
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Das FA beantragt,
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die Revision als unbegründet
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das
FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
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Das FG ist auf der Grundlage seiner bisherigen
tatsächlichen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen,
dass keine Zahlungsverjährung nach § 228 Satz 1 AO der
Ansprüche aus den streitgegenständlichen Zinsbescheiden
eingetreten sei (1.). Der vom Kläger gerügte
Verfahrensmangel liegt indessen nicht vor (2.). Die Sache ist nicht
spruchreif (3.).
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1. Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis unterliegen einer besonderen
Zahlungsverjährung (§ 228 Satz 1 AO), die zum
Erlöschen des Anspruchs führt (§ 232 AO). Zu den
Ansprüchen aus dem Steuerverhältnis gehören auch
Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen (§ 37 Abs. 1
AO) in Gestalt von Zinsen (§ 3 Abs. 4 Nr. 4 AO).
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a) Die Verjährungsfrist beträgt im
Regelfall fünf Jahre (§ 228 Satz 2 AO). Sie beginnt
grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der
Anspruch erstmals fällig geworden ist (§ 229 Abs. 1 Satz
1 AO). Sie wird nur in den Fällen gehemmt oder unterbrochen,
die ausdrücklich im Gesetz geregelt sind (Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 23.08.2022 - VII R 46/20, BFHE 277, 73
= SIS 22 20 29, Rz 35).
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aa) Nach § 230 AO i.d.F. vom 01.10.2002 -
AO a.F. - (jetzt § 230 Abs. 1 AO) ist die Verjährung
gehemmt, solange der Anspruch wegen höherer Gewalt innerhalb
der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist nicht verfolgt
werden kann. Unter höherer Gewalt sind alle von außen
kommenden Ereignisse zu verstehen, die es bei Anwendung der
äußersten den Umständen nach zu erwartenden
Sorgfalt nicht zulassen, dass der Anspruch verfolgt wird.
Geringstes Verschulden schließt höhere Gewalt aus.
Beispiele sind: Krieg, Naturkatastrophen und andere unabwendbare
Zufälle (vgl. Senatsurteil vom 07.05.1993 - III R 95/88, BFHE
172, 1, BStBl II 1993, 818 = SIS 93 24 25 zu § 171 Abs. 1
AO).
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bb) Das Gesetz enthält in § 231 AO
eine abschließende Aufzählung der
Unterbrechungstatbestände (BFH-Urteil vom 23.08.2022 - VII R
46/20, BFHE 277, 73 = SIS 22 20 29, Rz 34 f., m.w.N.), denen zum
Teil Dauerwirkung zukommt (§ 231 Abs. 2 Satz 1 AO).
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Die Unterbrechung der Verjährung bewirkt,
dass der nach § 229 Abs. 1 Satz 1 AO in Gang gesetzte
Fristenlauf abgebrochen wird und mit Ablauf des Kalenderjahrs, in
dem die Unterbrechung endet, eine neue Verjährungsfrist
beginnt (§ 231 Abs. 3 AO, Prinzip der
Kalenderverjährung). Die bereits verstrichene Zeit bleibt
unberücksichtigt (vgl. auch Loose in Tipke/Kruse, § 231
AO Rz 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -,
§ 231 AO Rz 2).
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(1) Zu den verjährungsunterbrechenden
Maßnahmen gehören unter anderem die AdV und der
Vollstreckungsaufschub (§ 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO).
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Die AdV erfolgt, wenn sie gemäß
§ 361 Abs. 2 AO durch die Finanzbehörde gewährt
wird, durch einen Verwaltungsakt (§ 118 Satz 1 AO), der in
jeder der in § 119 Abs. 2 Satz 1 AO genannten Formen ergehen
kann (BFH-Urteil vom 18.03.2014 - VII R 12/13, BFH/NV 2014, 1093 =
SIS 14 16 18, Rz 13) und zu seiner Wirksamkeit der Bekanntgabe
bedarf (§ 122 AO, vgl. BFH-Urteil vom 24.04.1996 - II R 37/93,
BFH/NV 1996, 865, unter II.2.a). In dem bloßen Schweigen der
Finanzbehörde auf einen gestellten AdV-Antrag kann
grundsätzlich kein stillschweigender, dem Antrag stattgebender
Verwaltungsakt gesehen werden (BFH-Beschluss vom 16.06.2005 - VII B
273/04, BFH/NV 2005, 1747 = SIS 05 40 12). Eine verwaltungsinterne,
nicht nach außen wirksam gewordene Maßnahme - wie sie
in einem stillschweigenden Absehen von Mahnungen und
Vollstreckungsmaßnahmen gesehen werden könnte -
genügt zur Unterbrechung der Zahlungsverjährung nicht.
Für den Steuerpflichtigen muss bei Gewährung einer AdV
mit der erforderlichen Klarheit feststellbar sein, bis wann die AdV
gewährt ist und damit verjährungsunterbrechende Wirkung
hat, ob sich der Ablauf der Zahlungsverjährung durch die ihm
gegenüber wirksam gewordene Unterbrechungshandlung
verzögert und ob und wann der Zahlungsanspruch wegen Eintritts
der Zahlungsverjährung erlischt (BFH-Urteil vom 18.11.2003 -
VII R 5/02, BFH/NV 2004, 1057 = SIS 04 29 98, unter II.3.a).
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Ein Vollstreckungsaufschub liegt vor, wenn die
Finanzbehörde dem Vollstreckungsschuldner zusagt, von der
zwangsweisen Durchsetzung ihres Anspruchs für eine bestimmte
Zeit absehen zu wollen, wobei es nicht darauf ankommen kann, ob
diese Zusage gemäß § 258 AO rechtmäßig
ist oder so nicht hätte ergehen dürfen. Selbst eine
einseitige Erklärung des Vollstreckungsgläubigers, von
Maßnahmen zur Durchsetzung seines Anspruchs absehen zu
wollen, ist als Vollstreckungsaufschub im Sinne des § 231 Abs.
1 AO anzusehen und bewirkt folglich die Unterbrechung der
Verjährung (BFH-Beschluss vom 10.11.2003 - VII B 342/02,
BFH/NV 2004, 315 = SIS 04 09 43). Eine
verjährungsunterbrechende Wirkung hat eine solche
Maßnahme allerdings nur dann, wenn sie „nach
außen wirkt“, denn bei rein
innerdienstlichen Maßnahmen der Behörde ist für den
Betroffenen nicht mit der erforderlichen Klarheit feststellbar, ob
der Zahlungsanspruch durch Verjährung erloschen ist oder ob er
wegen Unterbrechung der Verjährung weiterhin zur Leistung
verpflichtet ist (BFH-Urteil vom 23.02.2010 - VII R 9/08, BFHE 229,
5, BStBl II 2011, 667 = SIS 10 15 08, Rz 33).
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(2) Auch Vollstreckungsmaßnahmen
bewirken eine Unterbrechung der Zahlungsverjährung (§ 231
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO). Erfasst werden die im Sechsten Teil der
Abgabenordnung abschließend geregelten Maßnahmen (vgl.
Koenig/Klüger, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 231 Rz 17),
das heißt alle Maßnahmen, die mit Beginn der
Zwangsvollstreckung darauf gerichtet sind, den Anspruch aus dem
Steuerschuldverhältnis zwangsweise durchzusetzen (Loose in
Tipke/Kruse, § 231 AO Rz 24, m.w.N.). Jedoch genügen
behördeninterne oder die Vollstreckung lediglich vorbereitende
Maßnahmen, wie zum Beispiel Amtshilfeersuchen an die
Vollstreckungsstelle einer anderen Finanzbehörde, nicht (vgl.
Loose in Tipke/Kruse, § 231 AO Rz 25; Koenig/Klüger,
Abgabenordnung, 5. Aufl., § 231 Rz 18).
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(3) Die schriftliche Geltendmachung eines
Anspruchs hat gleichfalls verjährungsunterbrechende Wirkung
(§ 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AO). Auch eine in der
Einspruchsentscheidung enthaltene Zahlungsaufforderung kann als
eine solche Maßnahme anzusehen sein (vgl. Heuermann in HHSp,
§ 231 AO Rz 53; BFH-Urteil vom 08.11.1994 - VII R 1/93, BFH/NV
1995, 657, unter II.2.a). Die Unterbrechung endet bei
Maßnahmen der Finanzbehörden mit deren Abschluss, das
heißt mit der Bekanntgabe der Zahlungsaufforderung (vgl.
Loose in Tipke/Kruse, § 231 AO Rz 40; Klein/Werth, AO, 18.
Aufl., § 231 Rz 24). Die in § 231 Abs. 2 Satz 2 AO im
Fall der Geltendmachung eines Anspruchs vorgesehene
Unterbrechungswirkung bis zur rechtskräftigen Entscheidung
über den Anspruch erfasst nur Ansprüche des
Steuerpflichtigen gegen die Finanzbehörde.
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b) Nach diesem Maßstab fehlt es an einer
ausreichenden Tatsachengrundlage für die Annahme des FG, das
FA habe die Zahlungsverjährung rechtzeitig vor Ablauf der
Verjährungsfrist unterbrochen. Auch die Voraussetzungen
für die Hemmung des Fristablaufs wegen höherer Gewalt
liegen nach den bisherigen Feststellungen des FG nicht vor.
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aa) Die Regelverjährung der mit den
angefochtenen Bescheiden vom 11.11.2011 festgesetzten, zum
16.01.2012 fälligen Zinsansprüche begann mit dem Ablauf
des 31.12.2012 und lief bis 31.12.2017. Die Verjährung wurde
durch die vom Finanzamt K mit Bescheid vom 30.04.2012 gewährte
AdV bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom
21.01.2015 unterbrochen. Die Verjährungsfrist von fünf
Jahren begann daher mit Ablauf des 31.12.2015 erneut zu laufen und
lief insoweit bis 31.12.2020.
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bb) Auch die dem Kläger postalisch
bekannt gegebene Einspruchsentscheidung vom 21.01.2015 bewirkte, da
mit ihr - nach der für den Senat gemäß § 118
Abs. 2 FGO bindenden Würdigung des FG - die schriftliche
Geltendmachung der Zinsansprüche gemäß § 231
Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AO verbunden war, dass die
Verjährungsfrist mit Ablauf des 31.12.2015 erneut zu laufen
begann und am 31.12.2020 endete. Eine Verlängerung der
Verjährungsfrist über diesen Zeitpunkt hinaus folgte
daraus nicht.
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cc) Im Hinblick auf den vom Kläger beim
FA gestellten AdV-Antrag vom 16.04.2015 hat das FG keine
hinreichenden Feststellungen zu einem
verjährungsunterbrechenden Ereignis getroffen. Das FG
führt einerseits aus, das FA habe über den Antrag nicht
entschieden (Urteil S. 6), nimmt aber andererseits an, das FA habe
diesem Antrag jedenfalls konkludent entsprochen (Urteil S. 12).
Insoweit fehlt es an tatsächlichen Feststellungen, aus denen
eine Entscheidung des FA abgeleitet werden könnte, die dem
Kläger gegenüber bekannt gegeben wurde. Das Schweigen des
FA genügt für eine konkludente AdV-Gewährung ebenso
wenig wie das Ausbleiben von Vollstreckungsmaßnahmen. Aus dem
Umstand, dass der Kläger beim FG keinen Antrag auf AdV
gestellt hat, lässt sich allein nicht schlussfolgern, dass ihm
das FA die beantragte AdV gewährt hat, denn der Verzicht auf
einen solchen Antrag kann verschiedene Gründe haben (zum
Beispiel der Vermeidung zusätzlicher Kosten dienen).
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Ein etwaiger Vollstreckungsaufschub
müsste dem Kläger bekannt gegeben worden sein, um eine
verjährungsunterbrechende Wirkung entfalten zu können.
Feststellungen dazu hat das FG jedoch nicht getroffen. Auch hier
genügen weder das bloße Schweigen noch rein
innerdienstliche Maßnahmen des FA zur Unterbrechung der
Zahlungsverjährung.
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dd) Die Feststellungen des FG tragen nach den
oben genannten Grundsätzen die Annahme nicht, der Ablauf der
Verjährungsfrist sei wegen höherer Gewalt nach § 230
AO a.F. gehemmt gewesen, da das FG nicht festgestellt hat, dass die
Verfolgung des Anspruchs in den letzten sechs Monaten der
Verjährungsfrist - also zwischen dem 01.07.2020 und dem
31.12.2020 - wegen eines Umstands unmöglich war, der es bei
Anwendung der äußersten den Umständen nach zu
erwartenden Sorgfalt nicht zuließ, dass der Anspruch verfolgt
wird.
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Allein die Tatsache, dass der Kläger
seinen Wohnsitz ab dem Jahr 2010 in C gemeldet hatte, ist kein
Umstand, der es dem FA wegen höherer Gewalt unmöglich
machte, die Zinsforderungen beizutreiben, zumal der Kläger -
wenn auch mit Unterbrechungen - wohl weiterhin inländische
Einkünfte erzielte.
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ee) Der Umstand, dass der Kläger
zwischenzeitlich in C lebt, ist keinem der in § 231 Abs. 1
Satz 1 AO genannten Tatbestände zuzuordnen. Selbst wenn das FA
aus rechtlichen Gründen an Vollstreckungsmaßnahmen
gehindert wäre, ließe sich daraus jedenfalls keine
verjährungsunterbrechende Wirkung ableiten, denn auch dieser
Umstand wird von keinem der in § 231 Abs. 1 Satz 1 AO
genannten Tatbestände erfasst.
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Es besteht insbesondere auch kein Anlass, die
Regelung des § 231 Abs. 1 AO erweiternd auszulegen. Die
analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im
Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus. Die Norm
muss gemessen an ihrem Zweck unvollständig, das heißt
ergänzungsbedürftig sein. Ihre Ergänzung darf nicht
einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf
bestimmte Tatbestände widersprechen (BFH-Urteil vom 31.07.2024
- II R 30/21 = SIS 24 18 76, zur amtlichen Veröffentlichung
bestimmt, Rz 18).
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An einer solchen planwidrigen
Gesetzeslücke fehlt es. § 231 Abs. 1 AO sieht neben
Vollstreckungsmaßnahmen weitere Wege vor, über die die
Finanzbehörde die Zahlungsverjährung unterbrechen
kann.
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2. Entgegen der Auffassung des Klägers
ist dem FG bei der Übertragung des Rechtsstreits auf den
Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 1 FGO mit Beschluss
vom 27.10.2021 kein Verfahrensfehler unterlaufen, der einen
absoluten Revisionsgrund darstellt (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m.
§ 119 Nr. 1 FGO).
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a) Eine fehlerhafte Anwendung des § 6 FGO
kann regelmäßig nicht mit der Revision gerügt
werden (§ 124 Abs. 2 FGO), da ein Beschluss, mit dem das FG
den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung
überträgt, nach § 6 Abs. 4 Satz 1 FGO unanfechtbar
ist. Ein Verstoß gegen § 6 Abs. 2 FGO führt jedoch
zu einer vorschriftswidrigen Besetzung.
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aa) Eine Besetzungsrüge mit der
Begründung, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO
für eine Übertragung auf den Einzelrichter hätten
nicht vorgelegen, kann ausnahmsweise Erfolg haben, etwa, wenn sich
der Einzelrichter selbst bestellt hat oder wenn ihm der
Rechtsstreit statt durch Senatsbeschluss durch Verfügung des
Vorsitzenden zugewiesen wurde, wenn gegen § 6 Abs. 2 oder
§ 6 Abs. 3 Satz 2 FGO verstoßen wurde oder wenn sich die
Übertragung auf den Einzelrichter aus sonstigen Gründen
als greifbar gesetzeswidrig erweist (BFH-Beschlüsse vom
19.01.1994 - II R 69/93, BFH/NV 1994, 725 und vom 14.04.2020 - VII
B 53/19, BFH NV 2021, 177 = SIS 20 19 00, Rz 9; vgl. auch
BFH-Beschlüsse vom 21.12.2004 - II B 13/04, BFH/NV 2005, 897 =
SIS 05 22 23, unter II.2. und vom 30.01.2008 - V B 57/07, BFH/NV
2008, 611 = SIS 08 14 47, unter II.1.b cc; vgl. Sunder-Plassmann in
HHSp, § 6 FGO Rz 94).
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bb) Nach § 6 Abs. 2 FGO darf der
Rechtsstreit dem Einzelrichter nicht übertragen werden, wenn
bereits vor dem Senat mündlich verhandelt worden ist, es sei
denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil
ergangen ist.
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(1) § 6 Abs. 2 FGO sieht eine
Übertragungssperre vor, die eingreift, sobald in dem
Rechtsstreit eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Die
Sperre setzt bereits mit dem Beginn der mündlichen Verhandlung
ein (Brandis in Tipke/Kruse, § 6 FGO Rz 9; Sunder-Plassmann in
HHSp, § 6 FGO Rz 46). Die Vorschrift lässt nur die in ihr
aufgeführten Ausnahmen zu (BFH-Beschluss vom 26.03.2012 - I B
109/11, BFH/NV 2012, 1162 = SIS 12 15 96, Rz 5), so dass nach dem
Beginn einer mündlichen Senatsverhandlung eine
Übertragung auf den Einzelrichter nur dann zulässig ist,
wenn inzwischen ein Senatsurteil in Form eines Teil- oder
Zwischenurteils (vgl. §§ 97 ff. FGO) oder eines
Vorbehaltsurteils (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 302 der
Zivilprozessordnung) ergangen ist.
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(2) § 6 Abs. 2 FGO liegt die Auffassung
zugrunde, dass eine nennenswerte Entlastung des Senats und eine
spürbare Verfahrensbeschleunigung nicht mehr erreichbar sind,
wenn sich bereits der gesamte Senat mit dem Fall beschäftigt
hat; § 6 Abs. 2 FGO soll überdies verhindern, dass der
Senat den Einzelrichter als „ausführendes
Organ“ einsetzt, nachdem er die Weichen
für die Entscheidung des Falls bereits gestellt hat
(BFH-Beschluss vom 26.03.2012 - I B 109/11, BFH/NV 2012, 1162 = SIS 12 15 96, Rz 6, m.w.N.).
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Die in § 6 Abs. 2 FGO genannte Ausnahme
vom Übertragungsverbot rechtfertigt sich dadurch, dass nach
Erlass eines Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteils das Verfahren
in eine neue Phase getreten ist und der Senat den nunmehr
anstehenden Prozessstoff in der Regel noch nicht intensiv behandelt
haben wird. Deshalb kann insoweit eine eigenständige
Bearbeitung durch den Einzelrichter sinnvoll sein; zugleich ist
eine unzulässige Beeinflussung durch Vorgaben des Senats nicht
zu befürchten (BFH-Beschluss vom 26.03.2012 - I B 109/11,
BFH/NV 2012, 1162 = SIS 12 15 96, Rz 6; vgl. auch Müller-Horn
in Gosch, FGO § 6 Rz 66; Gräber/Herbert,
Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 6 Rz 14).
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38
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(3) Ein Teilurteil im Sinne des § 6 Abs.
2 FGO ist auch ergangen, wenn der Senat in der mündlichen
Verhandlung zunächst einen noch nicht zur Entscheidung reifen
Teil des Streitgegenstands abgetrennt und über den
verbliebenen Teil durch taggleiches Senatsurteil entschieden hat.
Die Übertragungssperre steht in dieser Fallkonstellation nach
dem Normzweck des § 6 Abs. 2 FGO einer
Einzelrichterübertragung im abgetrennten Verfahren nicht
entgegen.
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(a) Nach § 98 FGO kann das Gericht ein
Teilurteil erlassen, wenn nur ein Teil des Streitgegenstands zur
Entscheidung reif ist. Der Erlass eines Teilurteils setzt voraus,
dass der Streitgegenstand teilbar ist. Ein Teilurteil darf nur zu
einem abtrennbaren Teil des Streitgegenstands ergehen. Ein Teil
eines einheitlichen Streitgegenstands ist abtrennbar, wenn er einer
gesonderten tatsächlichen und rechtlichen Würdigung
zugänglich ist (BFH-Urteil vom 25.02.2010 - IV R 24/07, BFH/NV
2010, 1491 = SIS 10 21 63, Rz 9, m.w.N.; vgl. zu Teilurteil und
Voll(end)urteil die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts
vom 22.03.2018 - 7 C 1.17, Rz 18 und des Bundessozialgerichts vom
18.08.2022 - B 1 KR 65/21 B, Rz 16). Im Streitfall hat das FG weder
im Klageverfahren 3 K 103/15 noch im vorliegenden Ausgangsverfahren
3 K 95/21 ein (formales) Teilurteil im Sinne des § 98 FGO
erlassen. Zwar lag im Verfahren 3 K 103/15 noch bis zur
mündlichen Verhandlung eine objektive Klagehäufung mit
mehreren Klagebegehren und abtrennbaren Teilen des
Streitgegenstands vor (vgl. § 43 FGO und BFH-Beschluss vom
22.07.2021 - V B 77/20, BFH/NV 2021, 1518 = SIS 21 15 87, Rz 8).
Das FG hat in diesem Klageverfahren aber formal nicht durch
Teilurteile entschieden, sondern erst nach Verfahrenstrennung beide
Klageverfahren (3 K 103/15 wie auch 3 K 95/21) durch
Voll(end)urteile abgeschlossen.
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(b) Bei teleologischer Auslegung des § 6
Abs. 2 FGO liegt bezogen auf den Gegenstand der mündlichen
Verhandlung allerdings ein (materielles) Teilurteil vor, wenn der
Senat nach der Abtrennung des noch nicht entscheidungsreifen Teils
über den verbleibenden entscheidungsreifen Teil aufgrund der
mündlichen Verhandlung durch Urteil entschieden hat. Auch dem
Normzweck der Übertragungssperre ist genügt, da der
abgetrennte Teil des Rechtsstreits durch den Einzelrichter
eigenständig zur Entscheidungsreife geführt werden kann.
Dies gilt insbesondere dann, wenn dieser Teil wegen eines beim
BVerfG anhängigen Verfahrens zunächst ruhend gestellt
worden war.
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b) Daran gemessen liegt ein Verfahrensfehler
des FG insoweit nicht vor. Die Einzelrichterübertragung im
Ausgangsverfahren 3 K 95/21 war nicht nach § 6 Abs. 2 FGO
unzulässig.
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Das FG durfte dieses Verfahren auf den
Einzelrichter übertragen, obwohl es in der mündlichen
Verhandlung vom 24.03.2021 (3 K 103/15) zunächst die
Abtrennung des die hier streitigen Zinsbescheide betreffenden
Verfahrens beschlossen und erst danach die Klage gegen die die
Investitionszulage betreffenden Bescheide abgewiesen hat. Bei dem
Urteil vom 24.03.2021 handelte es sich wegen der vorangegangenen
Verfahrenstrennung materiell um ein Teilurteil im Sinne des §
6 Abs. 2 FGO. Wegen der noch ausstehenden Entscheidung des BVerfG
zur Verfassungsmäßigkeit der Verzinsung von
Steuerforderungen im Verfahren 1 BvR 2237/14 = SIS 21 14 23 war
lediglich der die Investitionszulagenbescheide betreffende Teil des
durch die Klage vom 19.03.2015 eingeleiteten Rechtsstreits
entscheidungsreif. Als das Verfahren 3 K 95/21 nach Entfallen des
Ruhensgrunds fortgesetzt wurde, war im Sinne des
„es-sei-denn“-Halbsatzes des § 6
Abs. 2 FGO im Verfahren 3 K 103/15 inzwischen ein
„Teilurteil“ durch den Senat ergangen.
Dieses Urteil genügt, um die aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 24.03.2021 eingetretene Übertragungssperre des
§ 6 Abs. 2 FGO aufzuheben.
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3. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie muss
zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG
zurückverwiesen werden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
Dadurch erhält das FG Gelegenheit, die
Zahlungsverjährung, insbesondere das Vorliegen etwaiger
verjährungsunterbrechender Maßnahmen während des
anhängigen Verfahrens, erneut zu prüfen und die fehlenden
Feststellungen nachzuholen.
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Sollte sich herausstellen, dass während
der Rechtshängigkeit der Klage die Zahlungsverjährung der
streitigen Zinsansprüche eingetreten ist (zum Beispiel mit
Ablauf des 31.12.2020), was vom FG festzustellen ist, wäre zu
prüfen, ob der Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit
der Zinsfestsetzung dadurch gegenstandslos und (im Ergebnis) in der
Hauptsache erledigt ist, da das FA aus den angefochtenen Bescheiden
keine Rechtsfolgen mehr ziehen kann (vgl. BFH-Urteil vom 24.04.1996
- II R 37/93, BFH/NV 1996, 865, unter II.3.).
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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
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